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1.2 Der Wiener Kreis
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Wittgenstein und die Flügel-Bildung : Da Wittgenstein auf den Wiener Kreis großen
Einfluss ausübte , seien auch zu dieser Thematik gleich einleitend ein paar Dinge gesagt.
Wie bereits oben erwähnt , wurde Wittgensteins Tractatus im Kreis gelesen. Schlick hat-
te den Namen Wittgenstein in einem Brief an Bertrand Russell vom August 1923 erst-
mals erwähnt. ( Nachlass Schlick , Inv.-Nr. 114 , Ru–6 ). Seinen ersten Brief an diesen selbst
schrieb er am Weihnachtstag 1924. ( Ferrari 2008 , 99 ) Zu persönlichen Begegnungen in
Schlicks Wohnung kam es erst ab 1927. Zunächst nahmen an diesen Gesprächen Carnap ,
Feigl , Waismann und Maria Kasper , die spätere Frau Feigls , teil. ( Friedl / Rutte 2008 f ,
209 ) Doch ab 1929 sprach Wittgenstein nur noch mit Schlick und Waismann. Waismann
protokollierte die Treffen und veröffentlichte sie später ( Waismann 1967 ). Schlick blieb
bis zu seinem Tode mit Wittgenstein in Kontakt und verbrachte beispielsweise im Sep-
tember 1933 einen gemeinsamen Urlaub mit ihm an der Adria. ( Friedl / Rutte 2008 g , 707 ,
Fn. 18 ) Bergmann äußert sich diesbezüglich :
Außer Schlick , Waismann und
– wie man hörte
– mit wenig Glück Carnap hat ihn von den
„Zünftigen“ kaum jemand erblickt. Die Vorstellung , daß er auf einem Kongreß oder im Zir-
kel erscheinen oder gar an einer Diskussion teilnehmen könnte , war fast Blasphemie. ( Berg-
mann 1936 [ 2006 , 650 ])
Bergmann sieht im Weggehen Carnaps nach Prag und der Verehrung Wittgensteins
durch Schlick einen Grund für das Auseinanderdriften des Wiener Kreises. Mit Carnap
sei den Vertreterinnen und Vertretern der streng physikalistischen Wissenschaftstheo-
rie und „der damit verbundenen radikalrationalen Allgemeinhaltung“ die Persönlichkeit
verloren gegangen , die den Mittelpunkt eines akademischen Zirkels hätte bilden kön-
nen. Die
Wittgensteinschen Esoteriker aber , unter deren Einfluß Schlick selbst immer mehr geriet ,
sahen in ihrer Abneigung gegen das „Zerreden“, und gegen die Diskussionen mit Leuten ,
denen der „Blick fürs Wesentliche , die nötige Intuition“, abging , den Zerfall des alten Krei-
auch Philosophie einschließlich Ethik ) und ab 1925 /26 am Pädagogischen Institut der Stadt Wien , wo-
für er vom Gymnasialunterricht freigestellt war. 1934 wurde er als Sozialdemokrat aus der Volkshoch-
schule entlassen , 1938 aus politischen Gründen und als Jude auch vom Schuldienst zwangspensioniert.
Zilsel versuchte in den USA seine Projekte zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft unter äu-
ßerst schwierigen Verhältnissen fortzusetzen. Krank und isoliert verübte er 1944 Selbstmord. ( Stadler
1997a , 802 f. ) Zilsel hatte schon früh mehr Interesse für Geschichte und Gesellschaft eingemahnt : „Je-
nes wirkliche Leben [ … ], das sich heute in der Philosophie zu regen beginnt , wurzelt doch nur in der
Mathematik und Naturwissenschaft unserer Zeit , vor allem in der mathematischen Physik ; es fehlt
dieser Philosophie , so jung und kühn sie ist , sehr zu ihrem Schaden das Verständnis und das Interes-
se für Geschichte und Gesellschaft.“ ( Zilsel 1929 [ 1992 , 15 ]) In den Geisteswissenschaften hielt Zilsel
Verstehen und Einfühlung für zentral.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441