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2. Terminologische Klärungen
38 Diese normative Ethik wird nun üblicherweise als genuine Teildisziplin der philoso-
phischen Moraltheorie gesehen , womit sie Ethik im Sinne der von mir schon in der Ein-
leitung eingeführten Terminologie ist. Im Unterschied zu deskriptiv-empirischen , nicht
moralisch Stellung nehmenden Untersuchungen der Moral werden hier moralische Sätze
nicht nur erwähnt , sondern gebraucht. D. h. hier werden moralische Werturteile gefällt ,
moralische Normen aufgestellt oder moralische Imperative ausgesprochen. Menschliche
Handlungen , Handlungsweisen , Eigenschaften , Institutionen , Gesellschaftsordnungen
oder ganze Weltzustände werden bewertet , befohlen , verboten , gelobt , getadelt , zu ihnen
wird geraten bzw. von ihnen abgeraten oder dergleichen. Es werden Maßstäbe des mo-
ralisch ( im weitesten Sinne ) Richtigen formuliert , begründet , kritisiert oder
– wie in be-
stimmten Konzeptionen Angewandter Ethik
– für Stellungnahmen herangezogen. Die-
se Maßstäbe können sehr allgemeiner Natur sein wie beispielsweise das Moralprinzip
des Handlungsutilitarismus : „Jene Handlung ist gesollt , die von allen Alternativen den
höchsten gemeinsamen Nutzen bringt.“ Bei den Maßstäben kann es sich jedoch auch
um spezifischere handeln wie bei den Geboten des Dekalogs oder den Prinzipien mittle-
rer Reichweite in der Medizinethik von Beauchamp und Childress ( Beauchamp / Child-
ress 2008 ). Es stehen hier graduell abgestufte Möglichkeiten mit den jeweiligen Vor- und
Nachteilen offen. Im Rahmen normativer Ethik wird nicht nur neutral präsentiert , son-
dern mehr oder weniger verbindlich Stellung genommen , und sei es nur dahingehend ,
welche sehr allgemeine Moralauffassung für weitere spezifischere Stellungnahmen her-
anzuziehen sei.37 Ethikerinnen und Ethiker sind als Autorinnen oder Autoren normativ-
ethischer Beiträge selbst Urteilende , Befehlende , Verbietende , Lobende , Tadelnde , Ra-
tende , Abratende oder dergleichen.
Die normative Ethik sieht sich als legitime Tätigkeit aus mehreren Gründen infrage
gestellt und stößt auf breite innere oder äußere Ablehnung. Ethikerinnen und Ethiker ,
die sich als neutrale Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler verstehen , halten genu-
in moralische Sätze der normativen Ethik für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
ler nicht für zulässig. Als solche hätten sie nicht moralisch Stellung zu beziehen , mora-
lische Stellungnahmen fielen grundsätzlich nicht in die Zuständigkeit der Wissenschaft.
Andere Ethikerinnen und Ethiker stellen vor dem Hintergrund einer bestimmten Auf-
fassung von Moral die Legitimität normativer Ethik insofern infrage , als sie moralische
Stellungnahmen nur als je persönliche Stellungnahme auffassen und keine positive Ant-
wort auf die Frage finden : Was sollte gerade mich dazu legitimieren , moralische Vorga-
ben zu machen , und wenn auch in noch so schwacher Form verbindliche ? Des Weiteren
wird die Legitimität häufig von außen infrage gestellt , insofern angezweifelt wird , dass
Ethikerinnen und Ethiker als Philosophinnen oder Philosophen über die nötige Autori-
tät verfügten , solche mehr oder weniger verbindlichen Äußerungen zu tätigen. Die Be-
37 Siehe zu dieser üblichen Unterscheidung von deskriptiver und normativer Ethik insbesondere Scara-
no ( 2002 , 25 ff. ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441