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2.3 Metaethik
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Der Intuitionismus war historisch gesehen für jene wie G. E. Moore ( Moore 1903 ) die
richtige Position , die am Realismus festhalten wollten , aber den Naturalismus ablehnten.
Er stieß jedoch auch auf heftige Kritik. Die meisten Argumente gegen den Intuitionis-
mus sind dabei jedoch Argumente gegen den mit dem Intuitionismus verbundenen Re-
alismus.42 Außerdem wird häufig ein moralpragmatisches Argument gegen den Intuiti-
onismus vorgebracht , das in dieser Untersuchung mehrmals zur Sprache kommen wird ,
nämlich dass vom Intuitionismus und seiner Selbstzuschreibung als intersubjektive Ver-
bindlichkeit die Gefahr des Fanatismus ausgehe :
Da sich der Intuitionist im Besitz der Wahrheit wähnt , fühlt er sich eher berechtigt , die ab-
weichenden Auffassungen anderer nicht nur nicht anzuerkennen , sondern diese auch aktiv
zu unterdrücken – es sei denn , das Gebot der Toleranz gehöre für ihn seinerseits zu den in-
tuitiv evidenten Prinzipien. Nowell-Smith hat zu Recht darauf hingewiesen , dass es kein Zu-
fall ist , dass die meisten moralischen Fanatiker zugleich Intuitionisten sind. Für sie liegt die
moralische Wahrheit oftmals so offen zutage , dass sie sich Vertreter abweichender morali-
scher Meinungen nur als Menschen vorstellen können , die sich dem Offenkundigen ledig-
lich aus Eigensinn oder Böswilligkeit verschließen. ( Birnbacher 2003 , 396 )
Birnbacher weist dennoch sogleich darauf hin , dass auch eine Nonkognitivistin oder ein
Nonkognitivist sich berechtigt fühlen könne , Prinzipien mit Festigkeit und Konsequenz
zu vertreten , und sich abweichenden moralischen Auffassungen mit Vehemenz entgegen-
stellt , wenn aus ihrer / seiner Sicht anzuerkennende Rechte anderer verletzt werden. ( Birn-
bacher 2003 , 397 )
Auch gemäß einem erkenntnistheoretischen Dezisionismus kann eine Moral bzw. eine
Festlegung des Kriteriums für „moralisch gut“ etc. in Geltung gesetzt werden. Gemäß dem
individualistischen Dezisionismus ist dies jedoch eine individuelle Angelegenheit , sodass
damit kein intersubjektives Bezugskriterium zur Verfügung steht.
These des individualistischen erkenntnistheoretischen Dezisionismus : Moralische Sätze sind
aufgrund einer individuellen Entscheidung wahr / falsch , richtig / falsch bzw. gültig / ungültig.
Anders sieht dies für einen gemeinschaftlichen erkenntnistheoretischen Dezisionis-
mus aus :
These des gemeinschaftlichen erkenntnistheoretischen Dezisionismus : Moralische Sätze sind
aufgrund einer gemeinschaftlichen Entscheidung wahr / falsch , richtig / falsch bzw. gül-
tig / ungültig.
42 1. Werte ohne Wertende und moralische Gesetze ohne Gesetzgebende scheinen so absurd wie Zwecke
ohne Zwecksetzende. 2. Wenn es moralische Tatsachen gibt , warum ist man sich über sie noch immer
nicht einig. 3. Die Annahme existierender moralischer Tatsachen lässt sich mit der faktischen histori-
schen und kulturellen Diversität moralischer Werte und Normen schwer plausibel machen. ( Birnba-
cher 2003 , 390 ff. )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441