Seite - 54 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Bild der Seite - 54 -
Text der Seite - 54 -
3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch-empiristischer Ethik
54 Horkheimer hatte die Polemik in relativ kurzer Zeit verfasst.47 Unmittelbarer Anlass wa-
ren Vorträge Neuraths , die im Oktober und November 1936 am New Yorker Institut der
Frankfurter Schule stattgefunden hatten , und eine Lektüreliste , die Neurath Horkheimer
im Vorfeld des Besuchs zukommen hatte lassen.48 Eine Reihe der dort aufgelisteten Schrif-
ten waren sodann am emigrierten Frankfurter Institut auch studiert worden.49 Nach den
Vorträgen ließ Horkheimer in einem Schreiben vom 24. November 1936 Neurath wissen , er
habe „nicht bloß bei mir , sondern auch bei den übrigen Teilnehmern den Wunsch verstärkt ,
uns auch fernerhin mit dem logischen Empirismus zu beschäftigen“. ( Dahms 1994 , 84 )
Neurath hatte daraufhin erwartet , Horkheimer werde den Logischen Empirismus „lie-
bevoll kritisieren“ ( Neurath an Carnap ,50 22. Dezember 1936 , Nachlass Neurath , Inv.-Nr.
220 ). Ganz so liebevoll wurde es , wie oben gesehen , nicht. Horkheimer hatte schon vor-
her in einem Brief an Henry Grossmann die Hintergründe seiner beabsichtigten Kritik
dargelegt :
Im Institut selbst haben wir , wie im letzten Semester , einige Diskussionsnachmittage oder
-abende. Sie beziehen sich zum Teil auf ökonomische , zum Teil auf philosophische Probleme.
Unter den letzteren spielt vor allem der sogenannte logische Empirismus eine Rolle. Dies ist be-
kanntlich die in akademischen Kreisen gegenwärtig beliebteste Modeströmung , die sich einer-
seits von der mathematischen Philosophie Russells und Whiteheads , andererseits vom Empi-
riokritizismus Machs und dem sogenannten Wiener Kreis herleitet. Über den Siegeszug dieser
Richtung in den gesamten wissenschaftlich interessierten Kreisen vor allem der anglo-amerika-
nischen Welt kann man sich kaum übertriebene Vorstellungen machen. Es ist an der Zeit , dass
von unserer Seite eine zureichende Kritik gegeben wird. ( Horkheimer an Grossmann , 27. No-
vember 1936 , Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. / Archivzentrum : Na1 VI / 9 , 338 )
Adorno hatte in langen Briefen dermaßen viele Anregungen zum Aufsatz gegeben , dass
Dahms hier hinsichtlich Konzeption und vieler seiner Argumente vom ersten Gemein-
schaftswerk Horkheimers mit Adorno spricht. ( Dahms 1994 , 87 ) 51
47 „Ich habe die Arbeit nun sehr rasch fertiggemacht , weil es sich im Grunde nicht lohnt , allzuviel Zeit
darauf zu verwenden.“ ( Horkheimer an Adorno , 22. Februar 1937 , Universitätsbibliothek Frankfurt
a. M. / Archivzentrum : Na1 VI / 1 , 252 )
48 Horkheimer konnte nach seiner „Beurlaubung“ 1933 in Frankfurt die Aktivitäten seines Instituts zu-
nächst in Genf und ab 1934 in New York fortsetzen.
49 Siehe ausführlicher dazu Dahms ( 1994 , Abschnitt 3.2 ).
50 Carnaps Reaktion : „Wer ist Horkheimer ? Ich vermute , jemand in der New School for Social Research.
Stimmt das ? Und welches ist seine Zeitschrift , in der er unsere ganze Bewegung abhandeln will ?“
( Carnap an Neurath , 28. Dezember 1936 , Nachlass Neurath , Inv.-Nr. 220 )
51 Wobei Adorno mehr Russell , Wittgenstein und Moore im Auge haben wollte als die „Trotteln à la Kar-
nap [ sic ! ] und Schlick“ ( Adorno an Horkheimer , 28. November 1936 , Universitätsbibliothek Frankfurt
a. M. / Archivzentrum : Na1 VI / 1 , 53 ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441