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3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch-empiristischer Ethik
58 Sie [ die Positivistinnen und Positivisten ; A. S. ] verwirren heillos die Fronten und schimpfen
jeden einen Metaphysiker oder Dichter , gleichviel ob er die Dinge in ihr Gegenteil verkehrt
oder sie beim Namen nennt. ( Horkheimer 1937 , 51 )
Die Debatte wurde im „Positivismusstreit“ in der deutschen Soziologie in den 1960er-Jah-
ren wieder aufgenommen. Das ( gesellschafts- )politische Engagement von Mitgliedern des
Wiener Kreises war jedoch schon vergessen. Die Gründe hierfür mögen in den USA und
im Europa der Nachkriegszeit unterschiedliche sein , im Ergebnis führen sie hie und dort
zur Ausblendung dieses Kontextes.56 Der zunächst zwischen Adorno und Popper und spä-
ter vor allem zwischen Habermas und Albert auf der anderen Seite ausgetragene Streit
fand denn auch unter anderen Voraussetzungen und großteils anderer personeller Beset-
zung statt. Habermas warf dem Wiener Kreis vor , in seiner Philosophie bestehe die „un-
aufgeklärt szientistische Absicht , das erfahrungswissenschaftliche Denken selbst zum Ab-
soluten zu erheben“ ( Habermas 1988 , 35 ).57
Mit dem historischen Wiener Kreis hatte dies , wenn überhaupt , nur mehr am Rande
zu tun.58 Nichtsdestoweniger war das dort gezeichnete Bild der Positivistinnen und Po-
sitivisten als radikale und naive Szientistinnen und Szientisten im Allgemeinen für viele
Jahrzehnte ( und noch heute ) im deutschsprachigen Raum prägend. Infolge dieser Aus-
einandersetzungen hat sich „in weiten auch philosophisch interessierten Kreisen die An-
sicht breitgemacht , der Wiener Kreis sei eine etwas weltfremde , vorwiegend an logischer ,
mathematischer und physikalischer Grundlagenforschung interessierte , ansonsten aber
gegenüber den Problemen seiner Zeit gleichgültige oder implizit konservative Gruppie-
rung gewesen“ ( Dahms 1985b , VIII ).
56 Zum US-Hintergrund vgl. insbesondere Reisch 2005.
57 Uebel weist diesen Vorwurf mit guten Gründen , wie auch aus dieser Untersuchung hervorgehen wird ,
zurück : „Es mag zutreffen , dass in gewissen Schriften der anglo-amerikanischen Ausprägung des Lo-
gischen Empirismus der fünfziger Jahre solche Absichten und Ziele ihren Ausdruck finden , ja auch ,
dass gewisse Wendungen der Gründerväter des Wiener Kreises solche Ambitionen zu bezeugen schei-
nen. Einer detaillierten Analyse der Philosophie des Wiener Kreises halten diese Behauptungen Ha-
bermas’ aber keinesfalls stand. [ … ] Im Gegenteil lässt sich zeigen , dass es eine Philosophie des Wiener
Kreises gab , die genau als der Versuch zu verstehen ist , Aufklärung unter der Bedingung der Selbstre-
flexion zu betreiben.“ ( Uebel 2000 , 17 f. )
58 So stellte Jean Améry in seinem Aufsatz „Rückkehr des Positivismus ?“ ( 1971 ) klar : „[ … ] keineswegs
[ … ] ist positivistisches Denken als ‚Rechtfertigung des Bestehenden‘ historisch auf der Rechten an-
gesiedelt. Das Gegenteil ist wahr. Positivistische Philosophie , bezogen hier auf die Emanzipation des
Menschen vom Druck der Wirklichkeit und von der Pression des metaphysischen Dogmatismus ,
war immer schon [ … ] ein eminent linkes geistiges Erlebnis. Von David Hume über Auguste Comte ,
d’Alembert zu Ludwig Feuerbach , Richard Avenarius , Ernst Mach und schließlich zu den Neoposi-
tivisten des ‚Wiener Kreises‘ , war positivistisches Philosophieren stets ein radikal emanzipatorisches.“
( Améry 1971 , 197 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441