Seite - 64 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Bild der Seite - 64 -
Text der Seite - 64 -
3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch-empiristischer Ethik
64 Philosophie in den USA speist , in seiner Darlegung der „ejaculatory theory“ von Wertsät-
zen , die er auch für die im Wiener Kreis geteilte Auffassung hielt , in Theory of Valuation nur
auf Ausführungen Ayers , ohne die Quelle zu nennen.67 Dies erweckte den Anschein , der
Logische Empirismus insgesamt oder zumindest der Wiener Kreis würde Ayers Position
vertreten. ( Dewey 1939 , 6–13 )68 In einem Brief an Dewey im Rahmen der Herausgabe dieser
Schrift in der Reihe International Encyclopedia of Unified Science fand Carnap selbst seine ei-
gene Position missverständlich wiedergegeben , obwohl er für sich und den Rest des Wiener
Kreises eine semantisch nonkognitivistische Position bezog. Dewey male die Position des
Logischen Empirismus mit einem zu breiten Pinsel. Er , Carnap , würde Teile dieser „ejacu-
latory“ Sicht teilen und würde diese als für die Bewegung repräsentativ nehmen , doch im In-
teresse der Fairness und Akkuratheit wolle er , dass Dewey ein paar Dinge auseinanderhalte :
I suppose that your criticism of the “ejaculatory” view is especially meant against Schlick. But
Schlick and the others of us do not mean to say that value expressions have no meaning at
all , but only that they have no cognitive content. You say yourself that value statements are
not derivable from factual statements. Therefore , I suppose that you agree with us in the view
that there is a non-cognitive component. ( Carnap an Dewey , 11. März 1939 , Rudolf Carnap
Collection , ASP RC 102–39–03 ; zit. n. Reisch , 2005 , 91 )
Diese Beschränkung des Wiener Kreises auf einen reinen individualistischen Emotivis-
mus ist nicht überholt , sondern hält sich hartnäckig. Auch Hilary Putnam verweist in The
Collapse of the Fact / Value-Dichotomy , wenn es um die Ethik des Logischen Empirismus
( bei ihm Positivismus ) geht , lediglich auf Carnap , Reichenbach und Charles Stevenson ,
die bei allen Unterschieden ( und im Falle Stevensons mit einigen Einschränkungen ) ins
vorherrschende Bild passen. ( Putnam 2002 , 7–27 )69
67 Dewey gestand dies in einem Brief an Carnap , 24. März 1939 , Rudolf Carnap Collection , ASP RC
102–39–02. ( Siehe Reisch 2005 , 92 ) Dewey fügt schließlich eine Fußnote an , in der es u. a. heißt : “The
view that sentences having a nonempirical reference are meaningless , is sound in the sense that what
they purport to mean cannot be given intelligibility , and this fact is presumably what is intended by
those who hold this view.” ( Dewey 1939 , 64 ) Dewey fügte die Fußnote jedoch nicht bei der Darstel-
lung von Ayers Theorie an , die er nicht namentlich zuordnet , sondern gegen Ende der Schrift. Damit
trug Dewey dazu bei , diese irreführende Generalisierung zu verbreiten und zu verfestigen , und zwar
in einer logisch-empiristischen Reihe.
68 Nach Deweys eigener Werttheorie müssen Wertsätze behavioristisch und operationalistisch als Ar-
ten von „liking and disliking“ verstanden werden , um sie empirisch und wissenschaftlich behandeln zu
können. Die herrschende „ejaculatory“ Sicht von Wertsätzen stand dem jedoch entgegen. Diese Sicht
gehe davon aus , so Dewey , dass „value-expressions cannot be constituents of propositions , that is , of
sentences which affirm or deny , because they are purely ejaculatory“ ( Dewey 1939 , 7 ). Dewey widmet
ungefähr ein Zehntel seiner Arbeit der Widerlegung dieser Sicht.
69 In Ethics without Ontology wird die Ethik des Logischen Empirismus nur in einer kurzen Anmerkung
mit Bezug auf Ayer und Carnap erläutert. ( Putnam 2004 , 148 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441