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4.2 Engagement in parteinahen Vereinigungen
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Stadler vertritt die Ansicht , der Verein Ernst Mach wäre durch starken Einfluss des Wie-
ner Kreises vom militanten tagespolitischen Antiklerikalismus abgewichen , und zwar auf-
grund dessen , dass im Wiener Kreis die programmatische Metaphysik nicht als ideologi-
scher Selbstzweck betrachtet wurde , sondern als logische Konsequenz des empiristischen
Sinnkriteriums. ( Stadler 1982a , 159 ) Der Grund könnte jedoch auch darin gelegen haben ,
dass Schlick militante Tagespolitik völlig fern lag.
Doch nicht alle suchten die Nähe zur sozialdemokratischen Partei , sondern hielten sich
auf Distanz , entweder weil sie sich aus Parteipolitik gänzlich heraushalten wollten oder
weil es in der Ersten Republik kein für ihre politische Überzeugung passendes Parteian-
gebot gab. Zudem spielten divergierende Einschätzungen darüber , ob die Erneuerung ei-
ner Gesellschaft über politische und / oder ökonomische Reformen erfolgen könne oder
eher über die moralische Erneuerung der Individuen , eine Rolle.75
So entstammte Schlick dem Besitzbürgertum und vertrat einen politischen Liberalis-
mus im Sinne eines Linksliberalismus. Ganz ausgeschlossen war für Schlick parteipoliti-
sches Engagement. Besonders deutlich äußerte er sich dazu in einem Schreiben an Hof-
rat Ganz , mit dem er gegen die Auflösung des Vereins Ernst Mach protestierte :
Ich persönlich würde mich niemals dazu hergeben , Obmann eines Vereins zu sein , welcher
politische Zwecke verfolgt. Um mir als Philosoph die Unabhängigkeit meiner Meinung un-
ter allen Umständen zu erhalten , bin ich nie in meinem Leben Mitglied einer Partei gewe-
sen , am allerwenigsten der sozialdemokratischen. Jede parteipolitische Betätigung ist mir äu-
ßerst zuwider , und ich muß gestehen , daß es mich innerlich kränken würde , wenn der Verein ,
dessen Obmann ich bin , gerade wegen einer solchen Betätigung aufgelöst würde. ( Schrei-
ben Schlick an Ganz , 2. März 1934 ; vollständig zitiert in : Stadler 1982a , 196–199 , hier 198 )
In der Zwischenkriegszeit hatte der Sozial-Liberalismus in Österreich einen besonders
schweren Stand , da sich alles auf eine Zweilager-Politik zuspitzte und er auch nicht mit
dem „dritten“ Lager der Liberal-Deutschnationalen zusammengeworfen werden kann.
Dies kommt gut in einer Situationsanalyse von Wilhelm Börner ( 1882–1951 ), dem Leiter
der Ethischen Gemeinde , zum Ausdruck , wenn er anlässlich der ersten National ratswahl
am 17. Oktober 1920 ein Flugblatt mit dem Titel An das freisinnige Bürgertum ! Ein erns-
tes Wort zu den bevorstehenden Wahlen ! verfasste und verbreitete. ( Zu Börner und der Ethi-
schen Gemeinde siehe unten Abschnitt 4. 3. 3. ) Darin heißt es :
Grete Hermann , wie Grelling von Leonard Nelson stark beeinflusst , war beispielsweise im Internatio-
nalen Sozialistischen Kampfbund , den Nelson mit Minna Specht gegründet hatte , aktiv , dies auch wäh-
rend ihrer Emigrationszeit in London. Nach der Rückkehr in die BRD gestaltete Hermann die Bil-
dungs- und Kulturpolitik der SPD führend mit.
75 Siehe zu dieser Frage auch Russell ( 1971 , 141 ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441