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4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements
74 Was erstrebt der Monismus ?
Die Wissenschaft soll Führerin des Lebens des Einzelnen und der Gesellschaft werden.
Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse u. wissenschaftlichen Denkens. Beherrschung
der Natur durch den Menschen. Bewußte und planmäßige Ausarbeitung der Staatenord-
nung , der Wirtschaft , des Geschlechtslebens , der Erziehung. Erforschung der Ursachen der
menschlichen Leiden und Bekämpfung derselben. Bewußte und planmäßige Pflege der Le-
benskunst , zur Bereicherung des persönlichen Lebens u. zur Erfüllung des menschlichen Da-
seins mit Freude. Der Monismus leugnet , daß es Zwecke für das menschliche Handeln gibt ,
die wertvoller sind als menschliche Wohlfahrt. Wenn es auch nicht möglich sein sollte , die
Erde zum Paradies für den Menschen zu machen , so ist es sicher möglich zu verhindern , daß
die Erde für den Menschen zur Hölle wird.
Was lehnt der Monismus ab ?
Die kirchlichen Organisationen ( Bekämpfung durch Kirchenaustritt ), die kirchlichen Leh-
ren ( z. B. die Lehren vom Dasein Gottes , von dem Vorhandensein einer übersinnlichen Welt ,
von der Unsterblichkeit ), die gesamte kirchliche Lebensauffassung ( die Lehren von der Sün-
de und der Notwendigkeit der Erlösung ). Die Geheimwissenschaften , Spiritismus , Theoso-
phie , Anthroposophie. Jede Philosophie , die auf Mystik , Hellsehen , Intuition , innerem Er-
leben beruht. ( Mitteilungen der „Vereinigung der arbeitenden Frauen“, Jänner 1920 , Nr. 2 ,
Deutscher Monistenbund , Ortgruppe Leipzig ; zit. n. Stadler 1982a , 158 f. )
Der Monistenbund war eine Vereinigung , die auf der Grundlage philosophischer und mo-
ralischer Positionen politisch vor allem durch ihre Opposition zu kirchlichen Organisa-
tionen hervortrat. Mit dem offiziellen Standpunkt war , was besonders für das katholisch
( mit- )regierte Österreich von besonderer Brisanz war , ein starker Antiklerikalismus ver-
bunden. Tagespolitisch wurde dies durch den Aufruf zum Kirchenaustritt vertreten. Allge-
mein waren die Monistinnen und Monisten vor allem im Justiz- , Schul- und Fürsorgewe-
sen sowie der Antialkohol- und Frauenbewegung aktiv. ( Stadler 1982a , 156 )
Als besonders aktiv trat im Monistenbund neben Jodl der hier ebenfalls zu erwäh-
nende Rudolf Goldscheid ( 1870–1931 ) hervor. Goldscheid , der in Berlin ( ohne Ab-
schluss ) Nationalökonomie , Philosophie und Soziologie studiert hatte , wurde bereits
1911 Mitglied des Deutschen Monistenbundes. Ab 1912 war er für fünf Jahre Präsident
des Österreichischen Monistenbundes. Goldscheid gilt als Begründer der Finanzsoziolo-
gie ( Goldscheid 1917 ), die sich mit den gesellschaftlichen Wirkungen der staatlichen Fi-
nanzverwaltung befasst. Er setzte sich zudem für die sogenannte Menschenökonomie
ein , die eine biologische und kulturelle Höherentwicklung der Menschheit zum Ziel
hatte ( Goldscheid 1908 und 1914 ), obwohl er gleichzeitig den Sozialdarwinismus ab-
lehnte und sich wie Herbert Spencer an Jean-Baptiste Lamarcks Evolutionstheorie ori-
entierte. Führend aktiv war Goldscheid darüber hinaus in der Österreichischen und der
Deutschen Liga für Menschenrechte. Nicht zuletzt für das Themengebiet der vorliegenden
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441