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4.3 Engagement in überparteilichen Organisationen
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u. a. Marianne Hainisch , Wilhelm Jerusalem , Rosa May reder ,92 Julius Ofner und Artur
Gundaccar Freiherr von Suttner. ( Frey 1962 , 1 ) Ver anstaltungen und Vorträge widmeten
sich u. a. der sozialen Lage von Arbeiterinnen und Arbeitern sowie jener der Dienstbo-
tinnen und Dienstboten , ebenso der Entlohnung von Frauen , der Kindererziehung und
Schundliteratur. Laut Satzung ging es um die Unterstützung aller im ethischen Interes-
se gelegenen Reformen der gesellschaftlichen Zustände. In § 1 der Satzung – Zweck der
Gesellschaft – heißt es hierzu :
Die Ethische Gesellschaft bezweckt , den Sinn für die ethischen Forderungen , d. i. für die
Förderung der Wahrhaftigkeit der Gerechtigkeit und der Menschenliebe zu wecken , zu
schärfen und zu fruchtbarer Betätigung zu bringen und solchermaßen möglichst viele Men-
schen guten Willens im Bewusstsein gemeinsamer ethischer Ziele und in der Erfüllung be-
stimmter ethischer Aufgaben zu vereinigen. Politische Tätigkeit ist ausgeschlossen.
Es wird hier dem moralischen Engagement viel Raum eingeräumt , ohne bereits als poli-
tische Tätigkeit verstanden zu werden.
Jodl war , in München geboren , katholisch erzogen worden , jedoch zunehmend von re-
ligiösem Zweifel erfüllt. Laut Georg Gimpl wurden ihm aufgrund dieser religiös-kriti-
schen Haltung in den Jahren 1882 und 1888 die ihm fast zugesicherte Professur in Würz-
burg und 1889 eine Professur in München vonseiten des Ministeriums verwehrt. ( Gimpl
1990 , 12 f. ) Neben seinen theoretischen Arbeiten zur Kulturgeschichte und Ethik war er
als sozial-liberaler kulturpolitischer Aufklärer tätig , zunächst während einer Professur in
Prag ( 1885–1896 ) und schließlich von seiner Berufung bis zu seinem Tode in Wien ( 1896–
1914 ).93 Ausführlich nahm er zu moralischen , politischen und pädagogischen Auseinan-
dersetzungen seiner Zeit Stellung.94 Zum Sozialismus blieb Jodl zeitlebens auf Distanz :
Daß ethische Kultur der Individuen und Reform der sozialen Zustände einander wechselsei-
tig fordern und bedingen : dies ist die allgemeine Überzeugung , welche die „Ethischen Ge-
sellschaften“ ins Leben gerufen hat und ihnen die Richtung ihrer Tätigkeit vorschreibt ; daß
der Begriff einer ethischen Kultur eine sozialistische Rechtsordnung fordere und seine Ver-
wirklichung nur auf deren Boden möglich sei : dies ist die individuelle Meinung einer Grup-
pe , [ … ]. ( Jodl 1895 [ 1916 , 421 f. ])
92 Zu Rosa Mayreder siehe Siegetsleitner 2013.
93 Jodl wurde von der Fakultät bereits als Nachfolger vorgeschlagen , als der Lehrstuhl Brentanos vakant
wurde. Es wurde jedoch Mach berufen. Dieser setzte sich später selbst , als die Professur Zimmermanns
frei wurde , für Jodl ein. Als Professor war Jodl der Doktorvater Otto Weiningers , dessen Dissertation
Geschlecht und Charakter ( Weininger 1903 ) er trotz massiver Vorbehalte approbierte. ( Stachel 2003 , 11 )
94 Die Beiträge wurden in Vom Lebenswege , herausgegeben in zwei Bänden ( Jodl 1916 und 1917 ), publi-
ziert. Der erste Band seiner zweibändigen Geschichte der Ethik war bereits 1882 erschienen , 1889 folgte
der zweite.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441