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4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements
78 Zu dieser Gruppe zählte Jodl nicht , was jedoch den späteren Leiter der Ethischen Gemein-
de , Börner , nicht daran hindern wird , 1920 eine Wahlempfehlung für die Sozialdemokra-
tische Arbeiterpartei abzugeben , wie wir oben gesehen haben.
In einem Vortrag über „Wesen und Ziele der ethischen Bewegung in Deutschland“,
den Jodl 1893 hielt und der 1908 in der Reihe Bibliothek der Aufklärung des Neuen Frank-
furter Verlages veröffentlicht wurde , nennt er die wesentlichen Zielsetzungen der Bewe-
gung. Die Bewegung sei
eine Gesellschaft von Männern und Frauen , in welcher man über die höchsten praktischen
Fragen des Lebens mit Ernst verhandelt , in welcher man Erfahrungen austauscht , in wel-
cher man zum Nachdenken angeleitet wird und dann und wann ein kräftiges Wort der Be-
geisterung vernimmt – [ … ]. ( Jodl 1893 [ 1917 , 202 f. ])
Bewusst wurde der Terminus „ethisch“ für den Namen der Bewegung gewählt , da sowohl
„sittlich“ als auch „moralisch“ im deutschen Sprachgebrauch abgegriffen klangen und „mo-
ralisch“ zudem einen pedantischen Beiklang führte. ( Jodl 1893 [ 1917 , 196 ]) Die Ablöse von
„moralisch“ oder gar „sittlich“ durch „ethisch“ für die lebensweltliche Praxis ist also nicht
neueren Datums. Auch die damit verbundene Verwechslungsgefahr nicht , wenngleich da-
mals ( wie heute ) eine Äquivokation von manchen gerne in Kauf genommen wurde. „Ethik“
wurde schon zu jener Zeit für die Nennung der wissenschaftlichen Disziplin verwendet.
Und an diese sollte , so Jodl in seinem Vortrag , angeknüpft werden. Die Ethische Bewegung
wollte die Inhalte der wissenschaftlichen Disziplin praktisch nutzbar und weiten Kreisen
zugänglich machen. Im 19. Jahrhundert hätten für die Verbindung von Ethik mit dem Le-
ben schon Friedrich A. Lange , Ernst Laas , Rudolf von Jhering , Gustav Schmoller , Ge-
org von Gižycki , Friedrich Paulsen und Harald Höffding gearbeitet. Es sei notwendig , die
Ethik im Einklang mit dem Geiste der modernen Wissenschaft neu zu begründen. Die
moralische Dimension spiele für diese Bewegung im privaten und gesellschaftlichen Le-
ben eine zentrale Rolle. So gehe es bei jeder Frage des Gemeinwohls im Hintergrund um
Sozialethik. ( Jodl 1893 [ 1917 , 200 ]) Der Bewegung konnte sich jede Person anschließen , die
die Überzeugung teilte , es gebe ein Menschlich-Gutes , das durch Vernunft zu erkennen sei
und durch den menschlichen Willen verwirklicht werden könne. Als einzige Autoritäten
waren Erfahrung und praktische Vernunft zugelassen. ( Jodl 1893 [ 1917 , 211 ]) Das Vertrauen
in die praktische Vernunft war bei Jodl wie in dieser Bewegung insgesamt noch sehr stark.95
In einem Beitrag zum International Journal of Ethics mit dem Titel Über den Begriff des
sittlichen Fortschritts setzt sich Jodl 1891 mit dem Umstand auseinander , dass die Moral ( bei
Jodl : Ethik ) von den einen , die sie als antiquiert und statisch betrachten , belächelt wer-
de und von den anderen einer Autorität überantwortet würde. Für Jodl ist die Moral we-
der statisch noch dürfe sie einer Autorität wie der Katholischen Kirche überlassen wer-
95 Felix Adler , der Gründer der amerikanischen Bewegung , war Kantianer.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441