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4.3 Engagement in überparteilichen Organisationen
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den. Auch wenn der Einzelne in ein fertiges Werte- und Normensystem hineingeboren
werde , so sei die Moral als Normensystem zwischen Individuum und Gesellschaft den-
noch historisch bedingt und mithin wandelbar. Zweck der Moral sei es , sowohl das Wohl
des Einzelnen als auch der Gemeinschaft zu gewährleisten. Im Kulturpessimismus und
den Klagen über einen Verfall moralischer Werte ( eine Generation vor ihm durch sport-
liche Betätigung und Studium der Frauen befürchtet )96 sieht Jodl eine gewisse „Alters-
grämlichkeit , welche sich in jeder Generation wiederholt und durchaus subjektive Stim-
mungen mit objektiven Tatsachen der Sittengeschichte verwechselt“ ( Jodl 1891 [ 1917 , 19 ]).
Die Philosophie habe , so Jodl in einem Brief an Alexios Meinong , in der moralischen
Erneuerung der Gesellschaft ihren Beitrag zu leisten :
Hier liegen für mich die höchsten Aufgaben der heutigen Philosophie , die in eminentem
Sinne Kulturaufgaben sind ; denn unsere Kultur , das ist meine feste Überzeugung , ist am An-
fang des Endes angelangt , wenn es nicht gelingt , im Gegensatz zum praktischen Materialis-
mus einerseits und dem Kirchentum andererseits einen rationalistisch klar durchgebildeten
ethischen Idealismus zum Gemeingut weiterer Kreise zu machen , der mit unserer theoreti-
schen Weltsicht nicht im Widerspruch steht und doch über das bloss gegebene Tatsächliche
[ … ] hinausstrebt. ( Jodl an Alexios Meinong , Mitte 1886 ; zit. n. Stachel 2003 , 14 )
Jodl war der Überzeugung , dieses Menschlich-Moralische könne verschiedene Gruppie-
rungen der Gesellschaft vereinen , besonders auch die Ungläubigen und Gläubigen ver-
schiedenster religiöser Bewegungen , obwohl es der Bewegung nicht um eine Bekämpfung
der Kirche oder des religiösen Glaubens gehe. Sie wolle mit den Kirchen im Bunde bei
der Humanisierung tätig sein. ( Jodl 1893 [ 1917 , 210 ]) Jodl war der Überzeugung , das Mo-
ralische müsse zur Sprache gebracht werden und die zunächst ökonomische und späterhin
gesellschaftliche Lehre vom allein selig machenden Egoismus habe sich als wissenschaft-
licher Aberglaube erwiesen. Diese habe nur zu einer rasch ansteigenden Ungleichheit ge-
führt und die Charaktere der oben und der unten verschlechtert. Oben hätte es beispiels-
weise zu Geldgier geführt , unten zu Stumpfsinn , Brutalität und Alkoholismus. ( Jodl 1893
[ 1917 , 198 f. ])
Vor diesem Hintergrund trat die Bewegung und insbesondere Jodl für weltlichen Mo-
ralunterricht ein. Als Lueger Bürgermeister von Wien wurde und der klerikale Einfluss
auf das Schulwesen und die Universitäten nach einer liberaleren Periode wieder zunahm ,
verfasste Jodl eine Reihe von Stellungsnahmen gegen die christlich-soziale Partei. Er ver-
96 „Und sehen wir nur auf die Entwicklung der Frauenfrage ! Wenn man unsere Großmütter in die Hör-
säle blicken lassen könnte , wo die Studentin friedlich neben dem Studenten sitzt : sie würden den Aus-
bruch eines Zeitalters der tiefsten Sittenlosigkeit prophezeien und zum mindesten verkünden , daß ein
Mädchen , welches erst so tief gesunken sei , sich unter die Studenten zu setzen , jedenfalls für einen an-
ständigen Bewerber keine passende Partie mehr sei.“ ( Jodl 1891 [ 1917 , 19 ])
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441