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4.3 Engagement in überparteilichen Organisationen
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Konstrukteur tätig gewesen war , ging es um eine systematische Verbindung zwischen po-
litischer Ökonomie , der Wert- und Entscheidungstheorie sowie einer Theorie der Lebens-
bedingungen. ( Stadler 1997a , 223 ff. )
Popper-Lynkeus entwickelte einen Sozialentwurf zwischen Liberalismus und Sozia-
lismus , den er 1912 ausführlich in seinem programmatischen sozialreformerischen Werk
Die Allgemeine Nährpflicht als Lösung der sozialen Frage präsentierte. Der Verein Allgemei-
ne Nährpflicht , der der institutionalisierten Umsetzung dieses Entwurfes gewidmet war
und von 1918–1938 existierte ,105 forderte eine Sozialisierung von Nahrung , Obdach und
Kleidung , sodass jedes Mitglied eines Gemeinwesens ein Mindestmaß an grundlegenden
Gütern erhalten sollte. Jedem sollte eine Mindestlebenslage gesichert werden. Die Vertei-
lung der Naturalien sollte über eine „Nährarmee“ erfolgen , an der verpflichtend teilzuneh-
men war. ( Stadler 1997a , 223 ) In seinem Sozialentwurf war also eine Art Planwirtschaft
in Bezug auf Grundgüter enthalten , die insbesondere Neurath anregen sollte.106 Nicht zu-
letzt das Konzept der Lebenslage griff Neurath von Popper-Lynkeus auf. ( Siehe hierzu
das Neurath-Kapitel der vorliegenden Untersuchung ) Mitglieder aus dem Wiener Kreis
waren neben Neurath auch Schlick und R. v. Mises. ( Stadler 1985 , 115 ) Popper-Lynkeus
konnte zudem jene aus dem Wiener Kreis binden , die politisch zu liberal waren , um sich
der sozialdemokratischen Partei zu sehr zu nähern. Schlick hob im Rahmen einer Denk-
malsenthüllung vor allem die moralische Bedeutung Popper-Lynkeus’ hervor :
So wahr Poppers Gedanke ist , daß aller wahre Fortschritt der Menschheit immer von ethi-
schen Gefühlen ausgeht und schließlich immer durch die ethische Wirkung von Einzelnen
erzielt wird , so wahr ist er selbst einer von diesen Einzelnen , denen die Menschheit für ihren
moralischen Fortschritt zu danken haben wird , und das Standbild dieses Mannes soll stets
ein Symbol sein für den Willen zum Fortschreiten in der Veredlung des Menschen und sei-
ner Institutionen. ( Schlick 1927b [ 2008 , 73 ])
Ebenso würdigte Frank Popper-Lynkeus in einem eigenen Beitrag ( Frank 1918 ). Unter
Popper-Lynkeus’ Anhängern finden sich überdies bekannte Personen wie Albert Einstein ,
Stefan Zweig , Arthur Schnitzler und Richard Coudenhove-Kalergi107. ( Stadler 1982a , 121 f. )
Neben der Pflicht des Staates , eine Grundversorgung für alle Bürgerinnen und Bürger
zu sichern , forderte Popper-Lynkeus eine Strafrechtsreform hin zu einem Strafrecht , das
sich nicht mehr auf das Vergeltungsprinzip stützte , und die Abschaffung der allgemeinen
105 Der Verein gab auch eine Zeitschrift gleichen Namens heraus.
106 In den anderen Bereichen trat Popper-Lynkeus jedoch für die Marktwirtschaft ein , sodass es , wie
Stadler ( 1982a , 165 ) zu Recht anmerkt , nicht begründet erscheint , wenn Neurath 1919 in einem Brief
an Popper-Lynkeus freudig mitteilt : „Ihr Werk wird Wirklichkeit , wir machen Vollsozialisierung.“
( Neurath an Popper-Lynkeus ; zit. n. Stadler 1997a , 224 )
107 Der Schriftsteller und Politiker Coudenhove-Kalergi ( 1894–1972 ) ist Begründer der Pan-Europa-Be-
wegung , mit der sich der Verein Allgemeine Nährpflicht solidarisierte.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441