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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
90 Carnap sogar für den bedeutendsten Philosophen der ersten beiden Drittel des 20. Jahr-
hunderts. ( Hochkeppel 1993 , 152 )114 In den Ehrbezeugungen , die 1970 kurz nach Carnaps
Tod in den Proceedings of the 1970 Biennial Meeting der Philosophy of Science Association er-
schienen , wird Carnap von Feigl sogar als „our great master“ bezeichnet. ( Feigl 1970 , XI )
Wenn vom Wiener Kreis oder dem Logischem Positivismus gesprochen wird , sei üb-
licherweise Carnap gemeint , so schon Quine :
The significance of the Vienna Circle , as a concerted movement , can be overestimated. We
are told of the evolving doctrine of the Circle when what is really concerned is the doctrine
of an individual , usually Carnap. [ … ]
When one speaks of the Vienna Circle or logical positivism , one thinks primarily of Carnap.
We do better to think of him as Carnap. ( Quine 1984 , 325 )
Ich werde hier Quine und den neueren Interpretationen zum Wiener Kreis folgen , inso-
fern ich Carnaps Werk zunächst als das Werk eines individuellen Philosophen behandle.
Dieses Werk besteht aus mehr als den technischen Beiträgen zu den eingangs erwähnten
Spezialgebieten , denen Carnap seine Achtung in der Analytischen Philosophie verdankt ,
nämlich „einer Vision , die alle diese Teile zusammenhielt und diese motivierte , eine Vi-
sion , deren Wichtigkeit die der einzelnen Teile übertrifft und überdauert“ ( Gabriel 2004 ,
3 ; Übersetzung A. S. ). Diese Vision war vor allem in seinen Ausführungen zu Moral und
Ethik einflussreich , denen dieses Kapitel gewidmet ist.
Nach vorherrschender Meinung beschränkt sich Carnaps Beitrag zur Ethik auf „eher
beiläufige Bemerkungen zur Metaphysik“ ( Mormann 2006 , 169 ), mit denen der Raum
für eine philosophische Beschäftigung mit Moral auch schon wieder verschlossen wurde.
Dies ist ein voreiliges Urteil , wie insbesondere Thomas Mormann in jüngster Zeit gezeigt
hat. Bei näherem Hinsehen nimmt das Thema „Werte“ und mit ihm auch die Moral und
Ethik einen höheren Stellenwert ein , als bis vor kurzem erkannt und zugestanden wurde.
Es würde sich , so Mormann , keinesfalls um eine „quantité négligeable“ handeln. ( Mor-
mann 2006 , 169 ) Dem ist , wie ich in diesem Kapitel ausführen werde , nur beizupflichten.
In diesem Kapitel wird es darum gehen , die bekannten , aber auch die weniger bekannten
Ansichten Carnaps in ihrer historischen Entwicklung und im Kontext kritisch darzulegen.
wird , einen der Hauptstränge. Die Bedeutung der nachfolgenden Größen wie Putnam , Quine , Da-
vidson und Kripke scheint sich nicht zuletzt danach zu bemessen , für wie bedeutend der von ihnen
überwundene Carnap zu gelten hat.
114 Hochkeppel geht soweit zu behaupten , mit Carnap beginne ein bis dahin unbekannter Stil des Phi-
losophierens : „ein philosophisches Teamwork , das dazu anhält , jederzeit zur Preisgabe eigener The-
sen bereit zu sein“ ( Hochkeppel 1993 , 149 ). Zumindest für Schlick hatte dies aber schon vor Carnap
gegolten , und wohl auch für andere frühere Philosophinnen und Philosophen. Carnap selbst schätz-
te an Russell „die glückliche Gabe , eine Atmosphäre zu schaffen , in der jeder sein Bestes für die ge-
meinsame Sache gab“ ( Carnap 1963a [ 1993 , 55 ]).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441