Seite - 95 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
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5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode
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der Jenaer Romantiker wieder auf , wie es in einem Bericht über den Serakreis von Mar-
tha Hörmann heißt , aus dem Wilhelm Flitner zitiert. ( Flitner 1986 , 141 ) Flitner , ein Mit-
begründer der Pädagogik als Universitätsdisziplin und lebenslanger Freund Carnaps aus
Jenaer Studienzeiten , beschreibt den Kreis in seinen Erinnerungen ( Flitner 1986 ) aus-
führlich. Es ging in diesem Kreis , der der Jugendbewegung zugehörte ,119 um Kontakt mit
der Natur und dem einfachen Leben , dem Carnaps Vorfahren noch sehr nahe gewesen
waren. Der Serakreis wurde von Eugen Diederichs , einem für Kunst und Lebensreform
engagierten Jenaer Verleger ,120 geleitet , der zunächst Feste zur Sonnenwende organisiert
hatte.121 Als 1909 die neu gegründete Jenaer Freistudentenschaft ( siehe unten ) dazukam ,
bildete sich der Serakreis. In ihm trafen sich junge Studenten und wenige Studentinnen ,
Mädchen und junge Frauen122 zu geselligem Tanz123 , Gesang , Theaterspiel , Wanderun-
gen , Fahrten und gemeinsamer Lektüre. ( Werner 2003 , 285 ) Die Sonnwendfeiern blieben
hierbei ein jährlicher Höhepunkt. Für diese Anlässe wurde sogar eine eigene Tracht er-
funden : „Schaube und Barett im Stil mittelalterlicher Scholaren und Minnesänger für die
jungen Männer , selbstgefertigte Kleider aus heller Seide oder farbigem Rupfen mit Mie-
der für die jungen Frauen. Zu festlichen Anlässen herrschte Kranzpflicht.“ ( Werner 2003 ,
124 ) Schauplatz der Zusammenkünfte wurde sehr bald Carnaps Rosengarten des Carnap-
Dörpfeld’schen Hauses am Kernberg. ( Flitner 1986 , 142 , 145 )124
119 Walter Laqueur stellt in einer historischen Studie zu dieser Bewegung die vielen Gruppen , Umbrü-
che und Strömungen dar , in der es vielerlei Spannungen gab ( u. a. in Fragen des Verhältnisses von
Männern und Frauen oder der Akzeptanz von Homosexualität ), die jedoch insgesamt sehr einfluss-
reich war : „Denn die Jugendbewegung war in ihrer Art ein Mikrokosmos des Deutschland des zwan-
zigsten Jahrhunderts. Es gibt nur wenige führende Politiker und noch weniger führende Intellek-
tuelle der Jahrgänge von 1890 bis 1920 , die nicht irgendwann einmal der Jugendbewegung angehört
haben oder in ihren empfänglichsten Jahren von ihr beeinflußt worden sind. Noch wichtiger aber als
dieses persönliche Element ist vielleicht die Tatsache , daß die Geschichte der Bewegung all die gro-
ßen Probleme der Zeit widerspiegelt. Anfangs war die Bewegung in ihrem Wesen unpolitisch , oder
besser , sie wollte unpolitisch sein ; doch allmählich wurde sie immer mehr in die Auseinanderset-
zung mit den großen Problemen der Epoche gedrängt.“ ( Laqueur 1962 [ 1978 , 7 ]) Einen guten Ein-
druck der Atmosphäre der Jugendbewegung vermittelt auch Kapitel 14 des Doktor Faustus von Tho-
mas Mann. ( Carus 2007b , 20 , Fn. 1 )
120 Auch Neurath publizierte im Diederichs-Verlag.
121 Fester Bestandteil dieser Feste war der Sonnengesang von Franz von Assisi als Hymnus auf die
Schöpfung und die Brüderlichkeit aller Geschöpfe. ( Flitner 1986 , 137 )
122 Frauen waren in Jena seit dem Wintersemester 1902 /03 als Hörerinnen zugelassen , seit dem Win-
tersemester 1906/07 schließlich zum Vollstudium. ( Werner 2003 , 259 )
123 Der Name leitet sich aus einem Reigentanz ab , in dem wiederholt „Sera , Sera , sancti nostri Domi-
ne“ gesungen wurde. Melodie und „Sera-Ruf“ wurden zum Markenzeichen des Kreises und zur Be-
grüßungsformel. ( Flitner 1986 , 131 f. )
124 Die Druckfassung des Theaterstücks Eulenspiegels Heimkehr. Ein Spiel im Freien von Hans Rothe
( Mitglied des Serakreises und später namhafter Regisseur ) zeigt auf dem Titelblatt ein Foto , auf dem
Carnap bei der Aufführung des Stückes zur Sonnwende 1914 zu sehen ist. Das Titelblatt findet sich
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441