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5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode
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fernt [ … ] Carnap war alles andere als ein schrecklicher Mensch. Er war freundlich , gütig
und großmütig. ( Zit. n. Hochkeppel 1993 , 157 )
Für die Jugendbewegung galt nämlich der Spruch : „Jugend ist Trunkenheit ohne Wein.“
( Flitner 1986 , 170 )
Auch Carnap zählte zu den sozialen Aufsteigern. Carnaps Vater hatte es zwar zu beschei-
denem Wohlstand und Respekt in der Gemeinde gebracht , doch hatte er bereits als Zehn-
jähriger die Schule verlassen müssen , um in der Bandweberei zu arbeiten. Weitere Bildung
konnte er sich nur als Autodidakt und abends aneignen. Diesbezüglich hob Carnap hervor :
[ … ] he never tried to conceal his modest origin. His esteem of other people was based only
on their character , not on their social position. ( Carnap 1957 , A2 ; zit. n. Carus 2007a , 47 )
Carnap sei stolz darauf gewesen , dass sein Vater ein Mann des Volkes war. ( Carus 2007a ,
48 ) Die Freistudentenschaft entsprach also Carnaps sozialer Herkunft und deren Hoff-
nungen auf sozialen Aufstieg und nötige gesellschaftliche Reformen.135
Bereits der Seramann Hans Kremers sah in der doppelten Mitgliedschaft in Freistu-
dentenschaft und Serakreis schroffe Gegensätze in Personalunion verbunden :
Die Freistudentenschaft ist ganz modern : Organisation , Politik , Betrieb , Aufklärung , sozia-
ler Ausgleich , Massenwirkung , Parlament im Kleinen , Strömungen der Gegenwart , durch-
aus ein Abbild der Gewerkschaften , Genossenschaften , Parteien.
Die Seragesellschaft ist ganz romantisch : bewußte Ablehnung jeder Organisation , [ … ] ent-
schieden aristokratische Haltung [ … ]; zwangloser , frei spielender Verkehr von Freunden ,
Farbigkeit , Ausgelassenheit und poetischer Glanz ; Volkslied , Lyrik und Gitarre. ( Kremers ,
Chronik der Freischar zu Jena , Typoskript , 1914 ; zit. n. Werner 2003 , 276 )
Der Serakreis war jedoch nicht antimodernistisch , sondern nur modernitätskritisch , und
das Naturerleben und einfache Leben , dem die Mitglieder gemeinsam nachgingen , war
keine Flucht großstadtverwöhnter Kinder aus elitären Kreisen , sondern eines , das ihnen
sozial sehr nahe stand. Ihre Eltern waren noch in den Werkstuben und auf den Feldern
gestanden. Von vielen Teilnehmenden wurde kein Gegensatz zwischen moderner Frei-
studentenschaft und neu-romantischem Serakreis empfunden. Die Jugendbewegung ins-
gesamt war nicht anti-wissen schaftlich und anti-modern. Diederichs verstand sein Ver-
lagshaus durchaus als „Versammlungsort moderner Geister“ ( Werner 2003 , Kap. 3 ). Der
135 Wann Carnap sich für eine akademische Laufbahn entschied , bleibt unklar. Flitner zufolge habe er
diese von Anfang an angestrebt. ( Flitner 1986 , 125 ) Carnap absolvierte 1920 jedoch auch die nöti-
gen Examen für das Lehramt an höheren Schulen für Philosophische Propädeutik , Mathematik und
Physik als Hauptgegenstände. ( Gabriel 2004 , 5 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441