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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
100 Serakreis war eine „intensive Form eines neuartigen geselligen Lebens“ ( Flitner 1986 , 128 ),
dem Jena entgegenkam , die „halb idyllisch-romantische , halb durchaus moderne , ja in vie-
len Zügen damals avantgardistische Kleinstadt“ ( Flitner 1986 , 135 ).136 Wie sich Romantik
und Moderne verbinden können , schildert Flitner sehr eindrücklich :
Verhaßt wurde uns das industrielle Deutschland wegen seiner Hinterhöfe und der Gestalt-
losigkeit seiner Vorstädte. [ … ] Alte Handwerkerstuben , in denen es noch die Hausgemein-
schaft mit Lehrlingen und Gesellen gab , sauber bewirtschaftete Bauernhöfe waren unser
Entzücken ; sie wurden bei Wanderungen mit Vorliebe aufgesucht. Die nachbarliche Gesel-
ligkeit kleiner Residenzen und bäuerlicher Dorfgemeinden schien unserer Geselligkeitsauf-
fassung verwandt. [ … ]
Andererseits brachte unsere soziale Phantasie auch wieder die Vision einer künftigen gesun-
den Gesellschaft hervor , die mit der modernen Industrie fraternisieren , mit den fortschrei-
tenden Wissenschaften leben sollte und das Negative , was sie gebracht hatten , in eine Heil-
samkeit werde umschlagen lassen. Der romantische Affekt steht mit dem utopischen im
Bündnis ; [ … ]. ( Flitner 1986 , 165 )
Die Jenaer Freistudentenschaft geriet jedoch tatsächlich allmählich in eine Krise. Den Prin-
zipien der Serageselligkeit folgend plädierte man für die Übernahme von exklusiven Aus-
wahlkriterien. Das war eine klare Absage an die ursprüngliche freistudentische Bewegung.
Auf dieser Plattform wurde im November 1912 die Akademische Vereinigung Jena gegründet ,
der u. a. Carnap beitrat. Auf Initiative von Carnap wurde daraus ein Jahr später die Frei-
schar von Jena.137( Werner 2003 , 306 ) Dieser Gründung vorausgegangen war 1913 das Treffen
der Jugendbewegung auf dem Hohen Meißner , an dem auch Carnap teilgenommen hatte
und das maßgeblich auf Jenaer Initiative hin zustande gekommen war. ( Flitner 1986 , 163 ff. )
Dort schlossen sich 13 Jugendverbände zur Freideutschen Jugend zusammen.138
Diese Jugendbewegung blieb für Carnap prägend :
[ … ] the spirit that lived in this movement , which was like a religion without dogmas , re-
mained a precious inheritance for everyone who had the good luck to take an active part in
136 Flitner streicht insbesondere die Haltung der Erotik gegenüber heraus , die intensiv , aber keusch ge-
wesen sei , und den kameradschaftlichen Umgang zwischen den Geschlechtern. ( Flitner 1986 , 150 ff. )
137 Eine Fotografie , die Carnap im Kreise der Akademischen Freischar zeigt , nämlich beim letzten Bei-
sammensein am 26. Juli 1914 , findet sich bei Werner ( 2003 , 305 ).
138 Neider berichtet davon , wie ungläubig er Carnap angeblickt hatte , als dieser ihm eröffnete , er sei
Mitglied der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ( USPD ) gewesen , einer linken
Gruppe , die sich während des Ersten Weltkriegs von der SPD abspaltete. „Ich sah ihn so ungläubig
an , wenn er sagte : ‚Ich als Unabhängiger damals‘ , und sagte : ‚Das würde ich Ihnen gar nicht zutrau-
en‘ und er meinte darauf : ‚Sie würden mir vieles nicht zutrauen , ich war auch am Hohen Meißner.‘
Und er kannte deshalb z. B. die Gedichte Stefan Georges sehr gut.“ ( Neider 1977 , 28 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441