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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
104 phen zu vermitteln suchte , indem er von ihrer Einstellung zum Leben , ihrem „Lebensge-
fühl“, und ihrem kulturellen Milieu ausging. ( Carnap 1963a [ 1993 , 6 f. ])
Nohl hielt Vorlesungen zur Ethik , zur Politik ,144 seinem Habilitationsgebiet der Ästhetik
und zur Pädagogik. ( Flitner 1986 , 124 f. ) Er war es , der die Unterscheidung zwischen ei-
ner theoretischen und praktischen Entscheidung betonte :
Zwischen einem System , das den Menschen als Objekt und als determiniert ansieht , und ei-
nem entgegengesetzten , wonach er verantwortlich und zur Selbstbestimmung frei ist , gibt es
keine theoretische Entscheidung , sondern nur eine praktische. ( Flitner 1986 , 119 )
Carnap erkennt in einem Brief an Flitner von 1968 den Einfluss Diltheys an , der über
Nohl auf ihn ausgeübt worden war , wie u. a. Naess festgehalten hat.145 Nach Diltheys
Weltanschauungslehre sind Weltanschauungen , wie sie in metaphysischen Systemen
zum Ausdruck gebracht werden , keine Erzeugnisse des Denkens , sondern Ausdruck ei-
ner Lebenseinstellung. Persönliche Lebenseinstellung werde in der Metaphysik in be-
grifflichen Systemen ausgedrückt. Für Dilthey ermöglichte seine Weltanschauungslehre ,
metaphysische Systeme zu verstehen , indem er ihre Funktion offenlegte. Weltanschau-
ung war in dieser Hinsicht mit Kunst und Religion zu vergleichen. Vor allem , dass
Dilthey es ablehnte , „aus der Analyse ethischer Phänomene eine metaphysische Hinter-
welt zu erschleichen“, mag Carnap in einer Übung zur Ethik , die Nohl abhielt , beein-
druckt haben. ( Flitner 1986 , 126 )
Die Lebensphilosophie ist auch im Vorwort des Aufbaus noch sehr präsent :
Auch wir haben „Bedürfnisse des Gemütes“ in der Philosophie ; aber die gehen auf Klarheit
der Begriffe , Sauberkeit der Methoden , Verantwortlichkeit der Thesen , Leistung der Zusam-
menarbeit , in die das Individuum sich einordnet. ( Carnap 1928a [ 1998 , XV ])
Dieses Verständnis von metaphysischen Systemen als Ausdruck eines Lebensgefühls ,
mit dem bestimmte Bedürfnisse des Gemüts befriedigt werden , war für Diltheys Welt-
anschauungslehre zentral und wurde von Nohl an Carnap vermittelt , ohne jedoch die-
selben Konsequenzen für die Philosophie zu ziehen , wie es Carnap in seiner Wiener-
Kreis-Periode tun wird. Erst dann wird er alle Bereiche der traditionellen Philosophie ,
144 Aufgabe eines Staatsmannes sei es , zwar realistisch und konkret die nächsten Schritte zu planen , aber
„langfristig immer am Humanisierungsgedanken“ festzuhalten. ( Flitner 1986 , 124 )
145 Naess tat dies in Four Modern Philosophers , wo er neben Carnap auch Wittgenstein , Heidegger und
Sartre behandelt. Carnap empfand sich dort in seltsamer Gesellschaft. ( Gabriel 2004 , 17 ) Der Brief
findet sich in englischer Übersetzung in Gabriel ( 2004 , 16 f. ). Zum gemeinsamen neukantianischen
Erbe , einem Treffen von Heidegger und Carnap in Davos im Jahre 1929 und allgemein zu deren Ver-
hältnis siehe Friedman 1996 und Friedman 2000.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441