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5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode
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nenden Abspaltung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands , bei. ( Carus 2007a , 58 f. )
Die moralischen und persönlichen Ideale , die Carnap bis dahin im privaten Umkreis zu
verwirklichen getrachtet hatte , sollten nun auch öffentlich wirksam werden.
Carnaps Politikbegriff war sehr weit , wie aus einem Artikel hervorgeht , den er für die
Politischen Rundbriefe , die Bittel herausgab , verfasste153 und der aus nicht bekannten Grün-
den nicht publiziert wurde. ( Siehe hierzu Carus 2007a , 59 ) Das Manuskript mit dem Titel
„Deutschlands Niederlage
– sinnloses Schicksal oder Schuld ?“ wurde am 29. Oktober 1918
nur wenige Tage vor dem Sturz der Regierung und dem Rücktritt des deutschen Kaisers
verfasst. Es ist ein weiteres Zeugnis von Carnaps frühen moralisch-politischen und ethi-
schen Auffassungen. Mormann wählt dafür die Bezeichnung „metaphysischer Sozialis-
mus“ ( Mormann 2010c , 1 ). Welche Auffassungen vertritt Carnap darin ?
Schuld an der Kriegsniederlage seien die Deutschen selbst , da sie zu unpolitisch gewe-
sen seien. ( Carnap 1918 [ 2010 , 17 ]) Sie hätten nicht erkannt , dass die Zeit der National-
staaten zu Ende sei und alles auf einen Weltstaat hinauslaufe. Carnap sieht in dem Arti-
kel die Weltgeschichte als eine „säkularisierte Heilsgeschichte“ mit einer „Tendenz zum
gesellschaftlichen , politischen und technisch-wissenschaftlichen Fortschritt“ ( Mormann
2010c , 2 ). Die Arbeiterklasse sei in der damaligen Geschichtsphase die führende Klasse
und eine sozialistische Planwirtschaft die einzig rationale Wirtschaftsform. Hier lehnt
sich Carnap an eine hegelianisch-marxistische Geschichtskonzeption an :
The historical evolution of mankind has a tendency toward political , and techno-scientific
progress. The history of the world is a secularized Heilsgeschichte : History is the world’s court of
judgment , as Hegel said : Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Outdated forms of political or-
ganization are eliminated through the ongoing world history. In particular , the German mili-
tarism is such an outdated species. ( Mormann 2010c , 2 )
Ein Weltstaat mit einer Weltregierung sei anzustreben. Deutschland solle deshalb einen
Wilson-Frieden – im Unterschied zu einem Entente-Frieden – akzeptieren.
153 Die Politischen Rundbriefe erschienen ab Anfang Oktober 1918 meist wöchentlich und dienten als
Diskussionsplattform der verschiedenen Strömungen der Jugendbewegung. In den ersten Ausgaben
wurde noch klargestellt , dass es nicht darum gehe , für eine bestimmte Partei einzutreten , sondern le-
diglich darum , die Innen- und Außenpolitik nach Gerechtigkeitsgrundsätzen zu gestalten. Als Vor-
bild sollte die britische Fabian Society dienen. „Am 30. Dezember erklärte der Rundbrief , es sei Auf-
gabe der Freideutschen Jugend , ihre Mitglieder ‚vom bürgerlichen Liberalismus über die Demokratie
zum Sozialismus‘ zu führen. Und ein paar Tage später erschien ein Aufruf an alle Freideutschen , so-
zialistisch zu wählen ; er war von Ahlborn , A. Bergsträsser , M. Hasselblatt , Eduard Heimann , Ha-
rald Schultz-Hencke , Rudolf Carnap , Karl August Wittfogel und Helmuth Tormin unterzeichnet
–
um nur einige wenige zu nennen , die in den folgenden Diskussionen eine bedeutende Rolle spielen
sollten.“ ( Laqueur 1962 [ 1978 , 127 ]) Beiträge Carnaps darin erschienen unter dem Pseudonym „Kern-
berger“, das sich von der Adresse seines Elternhauses in Jena „Am Kernberg“ ableitet. Einige befin-
den sich im Nachlass Carnaps.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441