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5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode
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Noch wissen wir156 [ Carnap zumindest mit eingeschlossen ; A. S. ] selbst das Gleichgewicht
zwischen beiden Kräften nicht zu finden , und müssen doch das strenge Urteil fällen : Dis-
harmonie ist Schuld. ( Carnap 1918 [ 2010 , 17 f. ])
Zum anderen hätte es an praktischen Konsequenzen gemangelt :
Je klarer die ethischen Forderungen gerade von der deutschen Wissenschaft herausgearbeitet
worden sind , umso schwerer ist unsere Schuld , dass sie auf das Gebiet der Theorie beschränkt
und bestenfalls auf das Privatleben angewandt wurden. ( Carnap 1918 [ 2010 , 18 ])
Aufgabe der Ethik sei es also , moralische Forderungen herauszuarbeiten , die insofern als
sie durch die Philosophie herausgearbeitet werden , auch ethische sind. Aufgabe der Po-
litik als Tun sei es sodann , das Gemeinschaftsleben gemäß diesen Vorgaben zu gestalten.
Mormann sieht hier den Einfluss Kants klar erkennbar , insofern Carnap von einer ein-
heitlichen Vernunft ausgehe , die praktische Vernunft und theoretische Vernunft umfas-
se. Alle Bereiche des Lebens sollen der einen Vernunft unterworfen werden. ( Mormann
2010c , 4 )157 Carnap bringt auch deutlich zum Ausdruck , dass bei Forderungen die Wahr-
heitsfrage zu stellen sei , denn bei den relevanten Sätzen , die im Friedensprogramm auf-
gestellt wurden , handelte es sich um Forderungen :
Auf keinen Fall dürfen wir uns in unserem Urteil über die Wahrheit der Sätze durch den
Umstand beeinflussen lassen , dass sie von feindlicher Seite als Friedensprogramm aufgestellt
sind. ( Carnap 1918 [ 2010 , 10 f. ])
Inhaltlich ging es dabei vor allem um die Einhaltung der Menschenrechte und das Selbst-
bestimmungsrecht der Völker. Carnap erkennt diese Forderungen als wahr und objektiv
gültig an. Er vertritt in diesem Artikel einen semantischen und erkenntnistheoretischen
156 Der Umstand , dass Carnap in seinen Texten und wenn er von seiner Arbeit sprach , das Wort „wir“
benutzte , wird in der Carnap-Forschung gemeinhin so interpretiert , Carnap wolle damit zum Aus-
druck bringen , sein Werk sei als Teil einer kollektiven Arbeit zu verstehen. ( Mormann 2000 , 13 ) Das
mag durchaus seine Intention gewesen sein. Gleichzeitig lässt die Formulierung offen , um welches
Kollektiv es sich jeweils handelte , und legte ( irreführend ) nahe , Carnaps Position als die eines Kol-
lektivs zu sehen , dem er sich gerade zugehörig fühlte. „Wir“ verleitet dazu , die Meinung Carnaps
( fälschlicherweise ) als die aller anzusehen. Genau genommen heißt „wir“ in diesem Artikel wohl „ich
und die Rundbrief-Leserschaft , die meine Ansichten teilt“ und „wir“ zu Zeiten des Wiener Kreises
„ich und alle aus dem Kreis , die meine Ansichten teilen“. Da es Carnap möglich war , längere Zeit
zu wirken und eine Tradition zu bilden , konnten seine Themen und Interessen eine philosophische
Strömung bestimmen. Sein „wir“ erleichterte die Definitionsmacht über die Vergangenheit , d. h. den
historischen Wiener Kreis.
157 “The later Carnap abandoned the idea of a general reason that could deal with theory and practice ,
life and mind. Reason and rationality was restricted to the theoretical realm.” ( Mormann 2010c , 4 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441