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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
112 ist , als zwar die letzten Umarbeiten in Wien vorgenommen wurden ,158 das Werk in seiner
Grundstruktur jedoch schon vor dem Umzug nach Wien verfasst war.
Als sich in Wien der Kreis um Schlick formierte , arbeitete Carnap in Jena und Bu-
chenbach bereits am Aufbau. Schon 1921/22 verfasste Carnap ein Manuskript , das den Ti-
tel Vom Chaos zur Wirklichkeit ( 1922b ) trägt und das er später mit der handschriftlichen
Notiz „Das ist der Keim zur Konstitutionstheorie des ‚Log. Aufbau‘ “ versah.159 Carnap or-
ganisierte für 1923 die berühmte Erlanger Tagung , die später als erste Konferenz der „wis-
senschaftlichen Philosophie“ gesehen wird , um sein Aufbau-Projekt zu diskutieren. ( Carus
2007b , 28 ) Auch im Wiener Kreis stellte er den Plan und die Methode des Aufbaus bereits
bei einem kurzen Besuch im Jahre 1925 zur Diskussion. Nach seiner Übersiedlung nach
Wien 1926 wurde im Kreis eine erste Fassung , die er bereits vor Wien abgeschlossen hatte ,
detailliert besprochen. ( Carnap 1963a [ 1993 , 31 f. ])160 Carnaps Werk , an dem er somit von
1921 bis 1928 arbeitete , erschien schließlich unter dem Titel Der logische Aufbau der Welt.161
Der Aufbau steht im Zentrum der neukantianischen Lesart von Carnaps Werken. Er
kann , so Mormann , auch als Versuch gelesen werden , Rickerts System der Philosophie von
1921 auf den neuesten Stand der Wissenschaft zu bringen. ( Mormann 2010b , 82 ) Und es ist
auch der Aufbau , auf den sich Mormanns These der drei Phasen in Carnaps Wertphiloso-
phie vor allem stützt. Dementsprechend lautet Mormanns Erläuterung zu ( C1 ), Carnaps
neukantianischer Phase :
Im Aufbau findet man einen expliziten , wenn auch knappen Versuch , die Wertphilosophie
des südwestdeutschen Neukantianismus in den Rahmen der Kon stitutionstheorie einzu-
fügen. Das heißt , Carnap unternimmt im Aufbau analog zur Kon stitution der empirischen
Welt den Versuch , so etwas wie die Welt der Werte auf der Grundlage von Wert er leb nissen
zu konstituieren. Fast alle Interpretationen des Aufbaus haben diese Phase vollständig igno-
riert. ( Mormann 2010b , 88 )
Haben wir es im Aufbau , soweit es um moralische Werte geht , mit einer neukantianischen
Position im Sinne Rickerts zu tun ?162
158 Klar erkennbare Einflüsse aus dem Wiener Kontext zeigen vor allem das Vorwort und das letzte Ka-
pitel , das einen engen Zusammenhang mit Wittgensteins Tractatus herstellt.
159 Mormann ( 2006 , 175 ) sieht im Titel vor allem einen direkten Zusammenhang mit Rickerts System
der Philosophie ( Rickert 1921 ). Andere betonen die starken Anklänge an Vaihinger. Weitere sachliche
Übereinstimmungen zwischen dem Aufbau und Rickerts System vgl. Mormann ( 2006 , 176 ff. ).
160 Carnap war wie Hahn , Neurath und dessen Frau Hahn-Neurath , Kraft und Neider auch im Gom-
perz-Zirkel. ( Neider 1977 , 28 )
161 Der Titel gehe , so Feigl ( 1970 , XII ), im Übrigen auf Schlick zurück.
162 Meine Beschränkung auf moralische Werte ist der Thematik der vorliegenden Untersuchung ge-
schuldet. Sowohl Carnap , die Neukantianerinnen und Neukantianer als auch die Pragmatistinnen
und Pragmatisten nahmen in ihrer Wertphilosophie eine solche Beschränkung gerade nicht vor.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441