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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
122 geht entweder direkt auf Erfahrung , also Erlebnisinhalte zurück oder hängt doch wenigs-
tens indirekt so mit Erfahrung zusammen , daß angegeben werden kann , durch welche mög-
liche Erfahrung sie bestätigt oder widerlegt werden würde ; d. h. sie ist entweder schon durch
Erlebnisse fundiert oder nachprüfbar oder wenigstens überhaupt sachhaltig. ( Carnap 1928b
[ 2004 , 30 ])
Mit diesem Kriterium will Carnap Scheinaussagen aus den Wissenschaften ausschließen ,
die er nicht in den Realwissenschaften ( nach seinem Verständnis : Naturwissenschaften ,
Psychologie , Kulturwissenschaften ) vermutet , sondern davon überzeugt ist , dass solche
vermeintlichen Aussagen , die gar nicht sachhaltig sind , nur in Philosophie und Theologie
vorkämen. ( Carnap 1928b [ 2004 , 30 ])
Was heißt das nun für Wert- und Normsätze in der Ethik ? Die Ethik ist in den Schein-
problemen nicht explizit Thema. Zwar lässt sich aus dem , was Carnap dort sagt , schlie-
ßen , dass Wert- und Normsätze nur dann theoretisch sinnvoll sind , wenn sie sachhaltig
sind. Ob zumindest manche der Wert- und Normsätze aus der Ethik in diese Kategorie
fallen können , wird jedoch offen gelassen. Sie könnten schließlich durch Erlebnisse fun-
diert werden.
In Scheinprobleme geht es weder um die Ablehnung von Moral noch direkt von Ethik ,
sondern von Metaphysik , d. h. um den Ausschluss von nur vorgeblich theoretisch sinnvol-
len Sätzen aus der Philosophie. Es bleibt offen , ob und gegebenenfalls welche Wert- oder
Normsätze theoretisch sinnvolle Sätze sind und ob sie , wenn sie als theoretisch sinnvol-
le Sätze in einer Ethik auftreten , dies nur vorgeblich tun und damit metaphysisch sind.171
Die Ansicht , dass Wert- und Normsätze auf den Ausdruck eines Lebensgefühls be-
schränkt sind , das niemals in Form theoretisch sinnvoller Sätze ausgedrückt werden kann ,
schlägt sich in Scheinprobleme , so sie sich bei Carnap schon ausgebildet haben sollte , noch
nicht nieder. Da er sich in Scheinprobleme freimütig auf den Aufbau bezieht , ist sogar eher
anzunehmen , dass er auch noch an seinen werttheoretischen Ansichten aus dem Aufbau
festhält.
Patzig betont in seinem Nachwort zu den Scheinproblemen , es gelte die Umwelt zu be-
rücksichtigen , auf welche zu wirken solche Schriften bestimmt waren. 1928 war die Wie-
derentdeckung der Metaphysik in vollem Gange. U. a. war gerade „das Gestirn Heideggers
aufgegangen“. ( Patzig 1966 , 89 ) Was die Ethik betrifft , war sie jedoch noch nicht dem Ver-
dikt der Metaphysik ausgeliefert.
In einem populärwissenschaftlichen Vortrag „Von Gott und Seele. Scheinfragen in Me-
taphysik und Theologie“ vom Juni 1929 bekräftigt Carnap :
171 In der Autobiographie äußert sich Carnap auch nicht gegen Theologie , sofern diese nur ein System
von Werten und Lebensvorschriften darstelle. Abzulehnen sei diese nur , wo sie metaphysisch auf-
trete. ( Carnap 1963a [ 1993 , 13 f. ])
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441