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5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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In „Wissenschaft und Leben“, womit ich zum Vortragsmanuskript komme , wendet sich
Carnap ausdrücklich der Rolle geistiger Leistung im Leben zu. Es kommt bei Carnap nun
erstmals die strikte Unterscheidung von Tatsachen und Werten zum Tragen. Aufgaben der
Wissenschaft
– als dem geistigen Gebiet par excellence ?
– sei es , die Tatsachen zu erken-
nen. Mit Werten hätte sie direkt nichts zu tun. Dies sei Aufgabe des konativ-affektiven
Bereiches , dem es obliege , die Ziele zu bestimmen. Die Wahl eines Grundwertes sei , so
Carnap 1929 , nicht Ergebnis und Ausdruck einer theoretischen Überlegung , die sich auf
das Erfassen einer Tatsache beziehe , sondern Ausdruck einer persönlichen Einstellung :
Die Wertung [ … ] ist nicht Erfassung einer Tatsache , sondern persönliche Einstellung.
( Carnap 1929b ,2 )
Eine solche grundsätzliche Wahl könne z. B. auf das Wohlergehen einer Gemeinschaft , die
Rettung der eigenen Seele oder das Wohlergehen der eigenen Person fallen , wobei diese
Grundwerte wiederum verschiedene Interpretationen zuließen. So könne der Grundwert
des Wohlergehens der Gemeinschaft sich auf das Wohlergehen der Familie , einer Nation ,
einer sozialen Klasse , einer Rasse oder der gesamten Menschheit beziehen. ( Carnap 1929b ,
1 f. ) „Eine begründete Rangfolge von Grundwerten ließ sich nach Carnap nicht aufstel-
len.“ ( Mormann 2006 , 185 ) Die Wertthematik zeigt sich bei Carnap spätestens hier voll-
ständig individualisiert und hinsichtlich der Grundwerte dezisionistisch.177
Was kann die Wissenschaft in Bezug auf Grundwerte leisten , wenn sie nicht deren
Wahl begründen kann ? Laut Carnap kann die Wissenschaft über die äußeren Konse-
quenzen einer gegebenen Werteinstellung informieren und über die Mittel aufklären , die
nötig sind , um die Ziele , die durch die Grundwertung vorgegeben werden , zu verwirk-
lichen. Werte bzw. Wertbegriffe gehören jedoch nicht mehr zum wissenschaftlichen Be-
griffsinventar.
( Nachgereihte ) Aufgabe des Geistes sei es , die Konsistenz der gewählten Ziele ( Wer-
te ) sicherzustellen. Insofern könne der Geist das Leben verbessern und keineswegs , wie
Ludwig Klages kurz davor im ersten Band von Der Geist als Widersacher der Seele behaup-
tet hatte , das Leben zerstören , indem er den natürlichen Fluss des Ausdrucks und der
Spontaneität behindere. ( Carnap 1929b , 3–4 ) Der Vortrag schließt mit einem Goethezi-
tat : „Sind die Kräfte des Lebens stark genug , so haben sie den Geist nicht zu fürchten !“
( Carnap 1929b , 4 ) Mit diesem Vortrag versichert sich Carnap wohl auch selbst , dass er
sich seinen intellektuellen Neigungen hingeben darf , ohne damit sein „Leben“ zu gefähr-
den , d. h. seine praktischen Ideale zu verleugnen.
Exaktheit und Reinheit der Wissenschaft von den „Urströmen des Menschlichen“ zu trennen. Letz-
tere wären damit auch für die Kunst , das Handeln und die Liebe befreit. ( Dahms 2004 , 363 )
177 Im Metaphysikvortrag des Folgetages sieht Carnap das Verbindende zwischen seiner Philosophie
und dem Bauhaus übrigens in der Authentizität. ( Dahms 2004 , 370 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441