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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
128 Aufgrund dessen , was Carnap über Grundwerte sagt und welche Beispiele er für eine
mögliche Wahl anführt , ist es naheliegend , dies als seine philosophische Auffassung von
moralischen Grundwerten zu sehen. Mormann nennt die Moralauffassung Carnaps in
dieser Phase deshalb einen lebensphilosophisch motivierten , dezisionistischen Konse-
quentialismus. Danach sei jeder grundsätzlich frei , „sein Leben gemäß denjenigen Wer-
ten zu führen , die ihm zusagen“ ( Mormann 2006 , 185 ). Die Wertthematik zeigt sich bei
Carnap spätestens hier vollständig individualisiert und hinsichtlich der Grundwerte in
der Tat dezisionistisch.
Für Carnap ist spätestens ab nun die Wissenschaft für die Beschreibung und Erklärung
von Tatsachen zuständig. Der Ausdruck eines Lebensgefühls sei hingegen Aufgabe der
Kunst. Metaphysik liege vor , wenn der Ausdruck eines Lebensgefühls mit dem Anspruch
auf darstellende Beschreibung auftritt. Im Kernbereich der Wissenschaft , den Theorien ,
haben Gefühle nichts verloren. Nur in den Vor- und Nacharbeiten dürften sie eine Rolle
spielen. Insofern ein moralischer Satz bei Carnap rein expressiv-präskriptiven Charakter
trägt , fällt er in die Zuständigkeit der Kunst , nicht der Wissenschaft.178
Haben wir eine Veränderung gegenüber dem Aufbau ? Im Unterschied zum Aufbau
bleibt die Option objektiv geltender Werte nicht mehr offen. Ohne persönliche Wahl gel-
ten auch keine Werte. Nach dem Aufbau ist also eine Rickert’sche Position ausgeschlos-
sen. Carnaps Position ab dem Vortrag „Wissenschaft und Leben“, mit dem er endgül-
tig in die logisch-empiristische Phase eingetreten ist , ist in Bezug auf Grundwerte klar
eine semantisch und erkenntnistheoretisch nonkognitivistische Position : Moralische Sät-
ze , die Grundwerte zum Ausdruck bringen , haben keine kognitive Bedeutung. ( Sie sind
aber nicht schon aufgrund dessen metaphysisch , sondern nur , wenn sie im Rahmen ei-
ner theoretischen Philosophie als pseudo-theoretische Sätze auftreten. ) Zudem handelt
es sich klar um eine rein expressivistisch-präskriptivistische Position , und zudem um eine
individualistische. Das hervorzuheben erscheint trivial , ist es aber nicht , sobald man ge-
meinschaftliche Intentionen etc. in Betracht zieht. Nach Carnap ( und den meisten Ex-
pressivistinnen und Expressivisten bzw. Präskriptivistinnen und Präskriptivisten ) werden
in moralischen Sätzen nicht nur Haltungen , Einstellungen etc. ausgedrückt , sondern es
handelt sich dabei um ( rein ) persönliche Vorlieben , Wünsche , Haltungen oder Einstel-
178 Im vierten Vortrag sieht Carnap das Bauhaus für das Lebensgefühl zuständig. Hier kommt es jedoch
in der Neuen Sachlichkeit zur Überschreitung von Grenzen. Auch wenn das Geistige im Idealfall ein
Bereich emotionaler Kühle sein sollte , so heißt dies nicht , dass das davon unterschiedene Lebens-
gefühl ebenso unterkühlt sein muss und das Gefühl , das zum Ausdruck kommt , die Charakteristika
des Geistes trägt. Ebenso wenig , dass die Kunst wie die Wissenschaft darstellerisch , wiedergebend ,
figurativ sein soll. Damit hält der Geist ( die Wissenschaft ) die Lebensgefühle ( die Kunst ) nämlich
nicht in ihren Schranken , sondern bestimmt diese. Hält die Lebensphilosophie den Ausdruck von
Lebensgefühlen in der Philosophie für zulässig und begeht damit auf dem Hintergrund einer strik-
ten Trennung eine Grenzüberschreitung , so überschreitet die Neue Sachlichkeit die Grenze in die
andere Richtung.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441