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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
134 den. Auf theoretischem Gebiet , d. h. für Carnap nach alltäglichem oder wissenschaftli-
chem Wissen , lassen sich höchstens zu erwartende Folgen der Handlung in Erfahrung
bringen. Diese können für den Entschluss eine wichtige Rolle spielen , diesen jedoch nicht
abnehmen. Theoretisches Wissen könne den praktischen Entschluss beeinflussen , jedoch
nie ersetzen und somit eine praktische „Frage“ nie rein theoretisch „beantwortet“ werden.
( Carnap 1934a , 258 )
Ebensolches gelte für die großen Entscheidungen im Leben. So könne man nieman-
dem beweisen , dass er einen bestimmten Beruf nicht ergreifen solle :
Hier gibt es keine Beweise , sondern nur Beeinflussung , Erziehung ; das theoretische Bewei-
sen kann freilich dabei eine wichtige Hilfe sein. ( Carnap 1934a , 258 )
Deshalb gelte auch :
Aus dem Gesagten ergeben sich nun gewisse Konsequenzen für die Formen des Kampfes ,
den wir gegen Aberglauben , Theologie , Metaphysik , traditionelle Moral , kapitalistische Aus-
beutung der Arbeiter usw. führen. [ … ] Ob [ … ] jemand für oder gegen Feuerbestattung , für
oder gegen Demokratie , für oder gegen Sozialismus ist , ist Sache der praktischen Stellung-
nahme , nicht des theoretischen Beweisens. Theoretisch kann hier nur festgestellt werden ,
daß die und die Einrichtung die und die hygienischen , wirtschaftlichen , kulturellen Folgen
hat. Das ist eine sehr wichtige Vorbereitung unserer Stellungnahme ; aber diese Stellungnah-
me wird uns dadurch nicht erspart. Wir müssen uns entscheiden , ob wir die in theoretischer
Überlegung festgestellten Folgen ( z. B. Überwindung der Wirtschaftskrisen und der Arbeits-
losigkeit ) wollen oder nicht ; davon hängt dann aufgrund der theoretischen Einsicht unser
Handeln ab. Die wissenschaftliche Überlegung bestimmt nicht das Ziel , sondern stets nur den Weg
zu dem beschlossenen Ziel. ( Carnap 1934a , 258 f. )
Praktische Fragen können nun nicht mehr wissenschaftlich ( und somit auch nicht philo-
sophisch ) diskutiert werden. Die Stellungnahme ist Sache des individuellen Charakters ,
nicht Gegenstand einer theoretischen Diskussion. Abgeleitete , relative Werte werden ig-
noriert. Außerdem vernachlässigt Carnap , dass mit der Bereitschaft , eine moralische „Fra-
ge“ ernsthaft zu stellen , schon eine bestimmte Stellungnahme , Positionierung , erfolgt sein
könnte , insofern ein Individuum nicht gänzlich frei ist , den moralischen Standpunkt al-
leine zu definieren.
Zudem bezieht Carnap in diesen Passagen klar moralisch und politisch Stellung. Und
zwar nicht gegen Moral allgemein , sondern gegen traditionelle Moral , wobei unklar bleibt ,
ob es um deren Inhalte geht oder um deren metaphysische ( scheintheoretische ) Begrün-
dung. Im Vordergrund dürfte Letzteres stehen. Sie treffen Carnaps weitere Aussagen zur
Metaphysik :
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441