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5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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Metaphysik ist Lyrik in der Verkleidung einer Theorie. Sie ist bloßer Gefühlsausdruck , gibt
sich aber durch die sprachliche Einkleidung in Behauptungssätze den Anschein , als gebe sie
Erkenntnis. ( Carnap 1934a , 259 )
Da metaphysische Philosophie und metaphysische Religionslehren keinen Inhalt hätten ,
gebe es keine theoretische Widerlegung im eigentlichen Sinne. Man könne sie jedoch zum
Objekt theoretischer Untersuchungen machen :
[ … ]; man stellt z. B. fest , daß es sich um Wunschträume und dergl. handelt , deren systema-
tische Förderung und Verbreitung in sozialen Kämpfen zur Ablenkung und Vernebelung
dient. ( Carnap 1934a , 259 )
oder
Theoretisch beweisen läßt sich nur , dass philosophische und religiöse Metaphysik ein un-
ter Umständen gefährliches , vernunftsschädigendes [ sic ! ] Narkotikum ist. Wir lehnen die-
ses Narkotikum ab. Wenn andere seinen Genuß lieben , so können wir sie nicht theoretisch
widerlegen. Das bedeutet aber keineswegs , daß es uns gleichgültig sein muß , wie die Men-
schen sich in diesem Punkt entscheiden. Wir können theoretisch Aufklärung über Ursprung
und Wirkungen des Narkotikums geben. Ferner können wir durch Aufruf , Erziehung , Vor-
bild auf die praktische Entscheidung der Menschen in diesem Punkt einwirken. Nur wol-
len wir uns dabei klar sein , daß diese Einwirkung außerhalb des theoretischen Gebietes der
Wissenschaft liegt. ( Carnap 1934a , 260 )
Der Beitrag wird mit einer Fußnote beschlossen , die zwar die Sinnlosigkeit der Metaphy-
sik als gemeinsame Position des Kreises ansieht , nicht aber die praktische ( persönliche )
Ablehnung von Metaphysik und Religion :
Die im Vorstehenden angedeutete Auffassung über die Sinnlosigkeit der Metaphysik wird im
„Wiener Kreis“ vertreten und weiter entwickelt. Dieser Kreis ist ein wissenschaftlicher Ar-
beitskreis ; die Arbeiten seiner Mitglieder , durch die die Richtung des Kreises charakterisiert
wird , liegen meist auf dem Gebiet der Logik und Erkenntnistheorie. Die im Vorstehenden
auch angegebenen nicht-theoretische Stellungnahme zur Metaphysik und Religion ist da-
gegen nicht Sache des Wiener Kreises. Hier spreche ich für mich persönlich ; doch weiß ich ,
daß die Mehrzahl der Mitglieder des Kreises eine ähnliche Einstellung hat. ( Carnap 1934a ,
260 , Fn. 2 )
Wie Mormann allgemein anmerkt , war Carnap meist sehr zurückhaltend , wenn es darum
ging , „die über die akademische Philosophie hinausgehende antimetaphysische Motivati-
on seiner philosophischen Arbeit explizit zu formulieren“ ( Mormann 2000 , 79 ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441