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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
140 und Gemeindeleben zu verbessern. [ … ] Und so ist eines der Hauptprobleme
– das allerwich-
tigste und allerschwierigste vielleicht nach dem furchtbaren und vordringlichen Problem ,
einen Atomkrieg zu verhindern
– Mittel und Wege zu einer Gesellschaftsorganisation zu fin-
den , welche die persönliche und kulturelle Freiheit des Einzelnen mit der Entwicklung einer
wirkungsvollen Staats- und Wirtschaftsorganisation versöhnen. ( Carnap 1963a [ 1993 , 131 ])
Auch in seiner Replik auf Morris hält Carnap 1963 fest :
[ … ], many of us , especially Neurath and I , have criticized the existing order of society as un-
reasonable and have demanded that it should be reformed on the basis of scientific insights
and careful planning in such a way that the needs and aspirations of all would be satisfied
as far as possible ; this attitude is the core of our scientific humanism. ( Carnap 1963c , 867 )191
Mormann sieht den wissenschaftlichen Humanismus als schwachen Schatten von Carnaps
metaphysischem Sozialismus , der seiner Begründung verlustig gegangen sei. ( Mormann
2010c , 1 )
Carnap brachte das politische Engagement nach Wien bereits mit. Seine Arbeit nach
der logisch-analytischen Methode , die er 1921 von Russell übernommen hatte , sollte ei-
nen Beitrag zum wissenschaftlichen Wissen schaffen , das für den wissenschaftlichen Hu-
manismus zentral war. Carus formuliert die Doktrin des Wiener Kreises deshalb auch fol-
gendermaßen :
The problems of the human race could be solved by reliable
– scientific
– knowledge , [ … ].
( Carus 2007a , 155 )
Selbst Carnaps logische Arbeiten bedeuten in dieser Perspektive keinen Rückzug aus ei-
nem praktischen Engagement , sondern eine missionarische Form , sich politisch einzu-
bringen.
Diese moralisch-politische Einstellung hielt Carnap zeit seines Lebens bei und en-
gagierte sich v. a. in der Amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in diese Richtung , wie
wohl er sie immer schärfer von seiner philosophischen Tätigkeit trennte.192 Wenige Wo-
chen vor seinem Tod hatte sich Carnap noch für zwei in einem Gefängnis in Mexi-
ko City aus politischen Gründen inhaftierte mexikanische Philosophen eingesetzt , die
191 Wolters nennt Carnaps wissenschaftlichen Humanismus „the practical component of his philosophi-
cal style“. ( Wolters 2004 , 36 )
192 Es ist übrigens ein Mythos , alle Logischen Empiristinnen und Empiristen seien in den USA freu-
dig in der philosophischen Gemeinschaft empfangen worden. Carnap sei entgegen dieser Annahme
nach seiner Emigration in die USA 1936 in Chicago sogar sehr schlecht behandelt worden und habe
nur geringen Erfolg in der Lehre gehabt. In seinen sechzehn Jahren dort ( 1936–1952 ), so Zeisel 1993 ,
habe Carnap nicht mehr als fünf Studierende bei ihren Abschlüssen betreut. ( Mormann 2000 , 30 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441