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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
142 rungssätzen wie „Es ist deine Pflicht , deinen Nächsten zu lieben“, hat viele Philosophen dazu
verleitet , sie als aussageförmige , kognitive Sätze zu betrachten. ( Carnap 1963a [ 1993 , 127 ])
Wir haben hier in der Wiener-Kreis-Periode sicherlich eine semantisch und erkenntnis-
theoretisch nonkognitivistische Position. So verstand dies auch Menger :
However , in a brief paragraph of his paper “The Vanquishing of Metaphysics through Logi-
cal Analysis of Language” ( Carnap 1931 ), Carnap first denied that propositions can express
value judgments , because the objective validity of a value can be neither empirically verified
nor deduced from empirical sentences. ( Menger 1994 , 179 )
Werturteile seien eben bloß der Ausdruck von Gefühlen. ( Menger 1994 , 179 ) Theorie sei
kognitiv , ( Lebens- )Gefühl und mit ihr Moral sei emotiv :
Die Konsequenzen dieser Einstellung waren gravierend : Die rigorose Unterscheidung zwi-
schen wissenschaftlichen Tatsachen und metaphysischen Werten engte den Bereich ratio-
naler Entscheidung stark ein , was Pragmatisten , Marxisten und Anhänger der Frankfurter
Schule den Logischen Empiristen vorzuwerfen nicht müde wurden. Genau dieses Problem
einer zu starken Restriktion des Bereichs der praktischen Vernunft stellten auch die ame-
rikanischen Pragmatisten in das Zentrum der Debatte , die sie mit dem Logischen Empi-
risten seit den vierziger Jahren über die gesellschaftliche und politische Relevanz der Wis-
senschaften führten ( cf. Morris 1963 ). Damit tauchte in veränderter Gestalt die Problematik
wieder auf , die schon die Jenaer Konstellation geprägt hatte , nämlich das prekäre Verhältnis
von „Geist und Leben“. ( Mormann 2006 , 187 f. )
Wir finden bei Carnap in Bezug auf Grundwerte einen individualistischen Expressivis-
mus-Präskriptivismus und einen erkenntnistheoretischen Dezisionismus , der spätestens
mit „Wissenschaft und Leben“ auftritt. Für den erkenntnistheoretischen Dezisionismus
sind moralische Sätze aufgrund einer Entscheidung richtig / falsch bzw. gültig / ungültig.
Die Entscheidung selbst ist nicht mehr sinnvoll zu begründen. Jeder Versuch der Mo-
ralbegründung muss demnach in letzter Hinsicht auf ihrerseits nicht weiter begründbare
Entscheidungen rekurrieren. Der Dezisionismus kann als eine gemeinschaftliche oder als
eine individualistische Variante auftreten. Carnap vertritt ihn in der individualistischen
Version. Die individuelle Entscheidung ist hinreichend für die Bestimmung eines mora-
lischen Satzes als richtig / falsch bzw. gültig / ungültig. Was gut oder böse ist , das sei „eine
individuelle Entscheidung jedes Menschen nach seinem Gewissen oder Wertgefühl oder
wie immer man es nennen will“ ( Carnap 1964 [ 1993 , 146 ]).
Wenn Werten kein Erfassen von Tatsachen ist , so sieht Carnap nur die persönliche Ein-
stellung als Alternative. Aus Sicht eines gemeinschaftlichen Dezisionismus , mit dem mei-
nes Erachtens die Moral am besten zu verstehen ist , kann zugestanden werden , dass , wel-
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441