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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
144 Bei Carnap ist das lebenspraktische Phänomen Moral keine Sache einer Pluralität von
moralischen Akteurinnen und Akteuren , keine soziale Institution. Die Inhalte werden nur
mit sich selbst abgemacht , nicht mit anderen. Alles , was es braucht , sind Empfängerin-
nen und Empfänger der Wohl- oder Übeltaten , keine „mitspielenden“ moralischen Ak-
teurinnen und Akteure. Im Extremfall spielt Carnap ein solitäres Spiel. Was ein religiöser
Mensch noch mit sich und seinem Gott abmachen muss , macht ein sich als moralisch ver-
stehender Mensch bei Carnap nur mehr mit sich selbst aus. Als einzige Rechtfertigungs-
instanz bleibt das eigene Gewissen.193
Wo ein Zusammenschluss von Individuen zu einer Wertegemeinschaft stattfindet , ist
dieser sekundär und basiert auf vorhergehenden moralischen Entschlüssen , der höchst
persönlichen Wahl von Grundwerten. In Carnaps Moralverständnis gibt es keine vorge-
gebenen Kriterien , die allgemein zugänglich wären und an denen sich eine solche Wahl
als richtig oder falsch ausweisen könnte , noch sollte. Die Moral wird als je individuel-
le bestimmt. Bei Carnap selbst fiel sie auf eine humanistische , mehr oder weniger aufge-
klärte Haltung , doch nichts am Inhalt dieser Einstellung weist sie als moralische aus. Al-
len Menschen übel zu wollen , könnte auch als moralische Haltung gewählt werden. So
berichtet Hans Zeisel in „Erinnerungen an Rudolf Carnap“ von zwei Vorfällen. Der ers-
te ereignete sich noch in Wien :
Dort fragten Studenten Carnap : „Ja , meinen Sie wirklich , daß Moral etwas ist , was jeder für
sich entscheiden muß ?“, und da hat er gesagt : „Ja.“ Darauf waren sie sehr wütend und haben
gesagt : „Also , das heißt , wenn Sie wollten , könnten Sie morden und das wäre moralisch ?“,
und darauf hat er geantwortet : „Ja , in meinem Sinn schon , aber glücklicherweise habe ich
keine Lust zu morden.“ ( Zeisel 1993 , 220 )
Der zweite betrifft einen Vorfall in Chicago :
Und in Chicago kam es zu folgendem Zwischenfall. Carnap sagte in irgendeinem Zusam-
menhang : zu sagen , „murder is evil“ ist falsch , weil das in der Syntax eine Aussage ist , wahr
oder falsch. In Wirklichkeit meint man , [ murder , is the … one shouldn’t do that … ]. Da wur-
de auch behauptet , Carnap wäre ein unmoralischer Mensch , das heißt , das populäre Ver-
ständnis dieser Wertposition hat diese Folgen gehabt. ( Zeisel 1993 , 220 f. )
193 Dies möglicherweise als Freud’sches Über-Ich verstanden , einem Konzept , das Carnap in seinen
Schriften nicht verwendet , das ihm jedoch durch sein Interesse an Psychoanalyse sicherlich vertraut
war. Wie Neider berichtet , unterzog sich Carnap
– wie viele andere Mitglieder des Wiener Kreises
–
einer Psychoanalyse : „Zum Teil sind sie nämlich nach Wien gekommen , weil sie hier zur Analyse
gingen. Mir ist bekannt , daß Carnap 20 Jahre
– schon in der Wiener Zeit und dann weiter in Ame-
rika – in Analyse war. Aber das ist natürlich eine Verbindung , über die man nicht gesprochen hat.“
( Neider 1977 , 39 f. )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441