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5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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Hierin liegt letztlich auch der trennende Unterschied zum amerikanischen Pragmatismus
derselben Zeit eines John Dewey , Abraham Kaplan oder C. I. Lewis.194 In einem Artikel ,
den Lewis 1941 verfasste , der aber erst später veröffentlicht wurde ( Lewis 1970 ), geht Lewis
auf vier Unterschiede zwischen Amerikanischem Pragmatismus und Logischem Empiris-
mus ein , für den Carnap ihm als Beispiel dient. Der vierte und letzte Punkt ist der unter-
schiedliche Status , der Werturteilen zugedacht wird. Lewis und Dewey halten eine Wert-
wissenschaft für möglich , weil sie einen festen Grund sehen , an dem sich die Objektivität
von Werten bemessen lässt : die menschliche Natur und deren Vorgaben , worin menschli-
ches Gedeihen besteht. Auch der Wert der Erkenntnis messe sich letztlich an seinem posi-
tiven Beitrag zu menschlichem Gedeihen. Sowohl Dewey als auch Lewis gehen von starken
anthropologischen Annahmen aus , die hier klare Grenzen setzen. ( Richardson 2007 , 310 ff. )
Der Humanismus als moralische Haltung liegt bei Dewey und Lewis nicht in der freien in-
dividuellen Verfügbarkeit , insofern jeder für sich entscheiden könnte , ob eine humanistische
Einstellung als moralisch falsch oder richtig etc. anzusehen sei.195 Was folgt aus einem indi-
vidualistischen Expressivismus-Präskriptivismus und Dezisionismus für die Lebenspraxis ?
Carnap hielt die logische Analyse von moralischen Werturteilen und Normen nicht für
eine rein akademische Angelegenheit. Er fand immer , dass „die mangelnde Unterscheidung
zwischen Tatsachenfragen und reinen Wertfragen zu Verwirrungen und Missverständnis-
sen in Diskussionen über Moralprobleme bei persönlichen und politischen Entscheidungen“
führe. Die Diskussion sei ergiebiger , „wenn der Unterschied deutlich gemacht wird , weil man
dann an die beiden grundlegend verschiedenen Arten zu fragen jeweils anders herangehen
wird ; für Tatsachenfragen werden dann Argumente mit der Beweiskraft von Tatsachen vor-
gebracht ; während Überredung , erzieherischer Einfluß , Appelle und dergleichen bei Ent-
scheidungen reiner Wertfragen angewandt werden“ ( Carnap 1963a [ 1993 , 127 f. ]).
Carnap ist dahingehend zuzustimmen , dass der Unterschied zwischen ( reinen ) Tat-
sachenfragen und reinen Wertfragen bei moralischen Entscheidungen zu berücksichti-
gen ist. Carnap hat jedoch den Fehler begangen , moralische Wertfragen generell als reine
Wertfragen zu sehen und Tatsachen-Komponenten zu übergehen. Moralische Wertfra-
gen können auf einen moralischen Maßstab Bezug nehmen , der durch empirische Kenn-
194 “Pragmatism was named after the pragmatic as it appeared in Kant’s philosophy , as was stressed by
Dewey ( 1931 , chapter 1 ), following Peirce. Peirce wished to stress the distinction between the tran-
scendental elements of Kant’s account of freedom ( the practical ) and the empirical elements ( the
pragmatic ) and to endorse only the latter. Carnap’s practical element in knowledge is a priori but he
has no pure practical reason upon which to ground morality.” ( Richardson 2007 , 298 , Fn. 3 )
195 Dewey lehnt auch eine strikte Trennung einer „emotiven“ von einer „wissenschaftlichen“ Sprache ab :
“The hard-and-fast impassible line which is supposed by some to exist between ‘emotive’ and ‘scien-
tific’ language is a reflex on the gap which now exists between the intellectual and the emotional in
human relations and activities. [ … ] The practical problem that has to be faced is the establishment of
cultural conditions that will support the kinds of behavior in which emotions and ideas , desires and
appraisals , are integrated.” ( Dewey 1939 , 64 f. )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441