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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
146 zeichen definiert sein kann. Moralische Wertausdrücke können spezielle Wertausdrücke
sein. Wo der Maßstab durch empirische Kennzeichen festgelegt ist , bleibt viel Raum für
argumentative Verständigung und Überprüfbarkeit. Dies würde noch zu weniger Verwir-
rungen und Missverständnissen führen.
Carnap warnt andererseits davor , diese praktische Bedeutung der Analyse zu über-
treiben , wie es manche Kritikerinnen und Kritiker getan hätten. Ihnen zufolge führe es ,
wie schon im Kapitel über die vorherrschende Sicht logisch-empiristischer Ethik ausge-
führt , zwangsläufig zu moralischer Verwahrlosung und Amoralismus , wenn man Wert-
urteilen den Status theoretischer Sätze abspreche. Kraus hielt auch die Position Carnaps ,
dass moralische Normen nicht wissenschaftlich begründbar seien , für gemeingefährlich ,
und er habe sich sogar überlegt , Carnap vor Gericht anzuklagen ( siehe Kapitel 3 der vor-
liegenden Untersuchung ). Carnap neigt zu der Auffassung , „daß die Bejahung oder Ab-
lehnung einer bestimmten These über die logische Natur von Werturteilen und die Art
und die Quelle ihrer Gültigkeit gemeinhin einen höchst begrenzten Einfluss auf prak-
tische Entscheidungen von Menschen hat. Das Verhalten in einer bestimmten Situati-
on und die allgemeine Einstellung der Menschen ist hauptsächlich durch ihren Charak-
ter bestimmt und nur wenig , wenn überhaupt , von den theoretischen Lehrmeinungen ,
denen sie anhängen“ ( Carnap 1963a [ 1993 , 128 f. ]). In diesem Sinne hält Carnap in sei-
ner Replik auf Robert S. Cohens Beitrag „Dialectical Materialism and Carnap’s Logical
Empiricism“ auch fest :
The theoretical theses of logical empiricism , based on analyses of procedures of knowledge
and of the structure of languages and conceptual frameworks , are as such neutral with respect
to possible forms of organization of society and economics. Nevertheless , even these theore-
tical theses have an indirect social effect. They give support to the view that strictly scienti-
fic methods are applicable also to the investigation of men , groups , and societies , and there-
by they help to strengthen that attitude which is a precondition for the development of more
reasonable forms of the social order , forms in which the dehumanizing effects of the pre-
sent organization of industrialization can be overcome. Furthermore , although the theoreti-
cal theses of logical empiricism are themselves neutral , it is nevertheless apparent , as Cohen
himself has repeatedly emphasized , that the adherents of this philosophy are by no means
neutral but strive , just like Russell , Dewey , and their followers , for a realization of their so-
cial and political aims. ( Carnap 1963d , 865 f. )
Dass die Anerkennung der nonkognitiven Natur der Werturteile das Desinteresse an
moralischen oder politischen Aufgaben fördere oder dafür bezeichnend sei , hält Carnap
durch eigene Erfahrung klar widerlegt. Sein ganzes Leben , von Kindheit an , habe er im-
mer starkes Interesse an moralischen Fragen , sowohl an persönlichen als auch an politi-
schen , gehabt. Alle im Wiener Kreis hätten großen Anteil an den Ereignissen in Öster-
reich , in Europa und der Welt genommen. ( Carnap 1963a [ 1993 , 129 f. ]) Carnap geht hier
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441