Seite - 147 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
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5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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jedoch von Fällen aus , in denen der Charakter bereits gebildet ist und dieser sich nicht
ändert. Für die Bildung des Charakters und seine Änderung mag es sehr wohl einen ent-
scheidenden Unterschied ausmachen , ob Werturteile durch Argumente gestützt oder wi-
derlegt werden können oder man nur Erziehung oder Manipulation am Werk sieht.
Eine Auswirkung zeigt Carnap selbst an : Wertsätze und die Probleme und Diskus-
sionen über diese gehörten ganz gewiss zu den wichtigsten Gesprächsstoffen zwischen
Menschen , nicht nur zwischen Philosophinnen oder Philosophen. Aber trotzdem , glaubt
Carnap , sollte man sie nicht als Erkenntnis ausdrücken , sondern etwa sagen :
[ I ]ch stelle mir als Ideal einen Zustand der menschlichen Gesellschaft vor , der soundso ist.
Der eine wünscht eine Gesellschaft , in der es eine Elite gibt und eine große Masse , die we-
niger Rechte hat. Ein anderer stellt sich eine demokratische Gesellschaftsform vor , wo alle
Individuen dieser Gesellschaft gleiche Rechte haben. ( Carnap 1964 [ 1993 , 148 ])
Nach Carnap wäre hier Ende der Diskussion. Wer als Maßstab für eine moralisch gute Ge-
sellschaftsform jedoch vertritt , dass sie dazu beitragen muss , die Bedürfnisse aller Menschen
ohne individuelle Ausnahme zu befriedigen , kann hier gegebenenfalls durchaus in Verstän-
digung mit anderen eine rationale Entscheidung treffen. Nicht alle Wertfragen sind reine
Wertfragen und brauchen zur Lösung eine persönliche oder gemeinschaftliche Entschei-
dung.
Wie sollten nach Carnap Meinungsverschiedenheiten gelöst werden ?
[ … ] zunächst die faktischen Meinungsverschiedenheiten klären , und erst wenn man in den
wichtigsten Punkten dieser Art zu einer Einigung gekommen ist , beginnen , die eigentlichen
Wertfragen zu diskutieren. Ich glaube , in dieser Weise wird die philosophische Einsicht uns
zwar nicht helfen , die Wertfragen selbst in der einen oder anderen Weise zu entscheiden ,
aber sie wird uns dazu verhelfen , eine klarere Basis zur Diskussion solcher Fragen zu finden.
( Carnap 1964 [ 1993 , 147 ])
Diese Ansicht ist nicht sehr extrem , wenn klargestellt ist , dass das , was hier als Wertfra-
gen noch übrig bleibt , reine Wertfragen sind , also solche , die keinerlei Wertrahmen mehr
als Bezug haben , wo nicht einmal geklärt ist , ob das Wohl oder das Wehe als Kriterium gilt.
In der Praxis sind viele Wertfragen , die geklärt werden wollen , keine reinen Wertfragen. Sie
sind dies weder in Diskussionen in einem weithin akzeptierten sehr spezifischen morali-
schen System noch in moralischen Diskussionen überhaupt , sobald ein Grundkonsens da-
hingehend besteht , dass die Moral das Wohl von Menschen im Auge hat. Auch dann sind
noch viele Entscheidungen zu treffen , doch handelt es sich nicht mehr um reine Wertfragen.
Die Frage ist , ob und wo wir es in der Moral jemals mit reinen Wertfragen zu tun haben.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441