Seite - 150 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Bild der Seite - 150 -
Text der Seite - 150 -
5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
150 [ A value statement ] is nothing else than a command in a misleading grammatical form.
( Carnap 1935 , 34 )
Die grundlegende Position des „Emotivismus“
– verstanden als allgemeiner semantischer
Nonkognitivismus , weshalb Kaplan den Ausdruck auch unpassend findet
– sei , dass „wahr“
oder „falsch“ auf Werturteile nicht anzuwenden seien , weil es sich um versteckte Impera-
tive handle. Kaplan geht der Frage nach , ob diese allgemeine nonkognitivistische Position
eine adäquate Explikation von Wertausdrücken und der Logik von Werturteilen darstelle.
Kaplan hält dieser Argumentation entgegen , es brauche für den normativen Gebrauch
eines Satzes keine spezifisch normative Bedeutung. Selbst wenn Werturteile dieselbe
Funktion hätten wie Imperative , folge daraus nicht , dass sie dieselbe Bedeutung hätten
wie diese :
[ … ] logical empiricism may have moved too hastily to a pragmatical analysis , passing over
completely the problems on the level of semantics. ( Kaplan 1963 , 831 )
Auch Kognitivistinnen oder Kognitivisten stimmten der Ansicht zu , Werturteile hätten
eine normative Funktion. Sie bestritten jedoch , dass diese Funktion es erforderlich mache ,
Werturteilen ausschließlich nonkognitive Bedeutung zuzusprechen. Auch wenn Werturtei-
le als Normen gebraucht würden , bliebe offen , ob sie dennoch kognitive Bedeutung hätten :
[ … ] indeed , the possibility is even open that they can perform the normative function well
only if they have a cognitive meaning , and if in that meaning they are true , or somehow
“presuppose” true propositions. ( Kaplan 1963 , 831 )
Kaplan vergleicht moralische Werturteile mit medizinischen Urteilen. Wissen entbehre
nicht automatisch eines normativen Charakters.
Could one say : “If medicine were knowledge , the rules of hygiene would be deprived of their
imperative character” ? Surely the contrary is closer to the truth. Such rules owe their imper-
ative force precisely to the cognitive character of medicine , unless indeed the rules are follo-
wed blindly as magical rituals or neurotic compulsions. ( Kaplan 1963 , 833 )198
Kaplan schreibt einem Satz eine abgeleitete kognitive Bedeutung zu , wenn dieser Satz
eine Rechtfertigung seiner eigenen normativen Funktion zur Verfügung stellt. Ein Wert-
urteil hat jedoch nur dann abgeleitete kognitive Bedeutung , wenn die Behauptung , dass
bestimmte Fakten vorliegen , in seine Bedeutung eingeht. ( Kaplan 1963 , 833 ) Die relevan-
ten Fakten hierbei seien Fakten über die Adressatinnen oder Adressaten und das Verhal-
198 Siehe zu diesem Vergleich auch Schlick 1908.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441