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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
152 Carnap wird das Versöhnungsangebot nicht annehmen , obwohl Schlick und Kraft Kap-
lan sehr nahestehen und Carnaps Werk durchaus pragmatistische Züge aufweist , denen
in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt wurde. So heißt ein ganzes
von Alan Richardson verfasstes Kapitel in The Cambridge Companion to Carnap „Carna-
pian pragmatism“. Auch Carnap selbst hat einen Einfluss aus dieser Richtung anerkannt :
The influence of the pragmatist ideas has been very fruitful for the development of my con-
ceptions. It did not derive so much from the works of the founders of pragmatism ( [ … ]),
but from later representatives such as C. I. Lewis , Charles Morris , Ernest Nagel , and Sidney
Hook , whose formulations seemed clearer and closer to those customary in science. ( Carnap
1963c , 861 )
Besonders hervorgehoben wird in diesem Zusammenhang das Toleranzprinzip , das
Carnap seit Logische Syntax der Sprache ( 1934b ) vertreten hat. Seit damals gab es für Carnap
keine „wahre“ Logik oder Mathematik mehr , „sondern lediglich symbolische Systeme
mehr oder minder großer Mächtigkeit und Ausdrucksstärke , die durch Axiome konven-
tionell festgesetzt werden konnten“ ( Stöltzner / Uebel 2006b , XXXV ). Jeder sollte nun die
für seine Zwecke am besten geeignete Sprache frei wählen können ( siehe auch Carnap
1963a [ 1993 , 30 ]).199 Sprachen seien Instrumente , die einer Praxis dienen und sich in einer
solchen beweisen müssen. Quines Carnap seiner „Two Dogmas of Empiricism“ ( Quine
1951 ) hat bei näherer Betrachtung wenig mit dem Carnap in den Schriften ab dieser Pe-
riode und Carnaps eigenem Verständnis zu tun :
From within Carnap’s thought , then , we have a view that stresses open-mindedness , toler-
ance , plurality , and an experimental spirit
– all well-known hallmarks of philosophical prag-
matism. Indeed , Carnap himself stresses again and again that in questions of choice of a logic
or linguistic framework , practical or pragmatic considerations are the only considerations that
can be raised ; [ … ]. [ … ], Carnap not only thought his own philosophy had considera ble prag-
matic elements but these elements actually connected his thought to the work of phi losophers
in the tradition of American pragmatism. ( Richardson 2007 , 296 )
Warum sich dennoch das Bild eines dogmatischen Carnap als hartnäckig herausgebildet
hat , sieht Richardson in folgendem Umstand begründet :
Most young philosophers meet Carnap first and foremost as Quine’s vanquished interlocu-
tor and , thus , as the leading purveyor of empiricist dogma in the twentieth century. Despite
199 Dass dieses Prinzip schon im Aufbau angelegt war , behauptet zwar Carnap selbst , wird jedoch nicht
von allen so gesehen. Cirera hält Carnap insgesamt für einen schlechten Historiker seiner eigenen
Arbeiten. ( Cirera 1994 , 40 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441