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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
154 In welche Kategorie nun Sätze einer Moral fallen bzw. welche in welche Kategorie fal-
len , bleibt damit gänzlich offen. Carnap ordnet sich selbst jedoch sogleich der werttheo-
retischen Position des Emotivismus zu , insofern „Emotivismus“ in dem weiten Sinne ver-
standen wird , wie Stevenson den Ausdruck in Ethics and Language ( 1944 ) versteht. Es gehe
nicht um den Ausdruck von vorübergehenden Emotionen , sondern um den Ausdruck von
Einstellungen. Da „Emotivismus“ häufig in einer engeren Bedeutung verwendet werde ,
will Carnap von „Nonkognitivismus“ sprechen. Was Wertsätze betrifft , vertritt Carnap
also im Großen und Ganzen einen Nonkognitivismus in der Stevenson’schen Varian-
te. ( Bis in welche Details er Stevenson folgt , erfahren wir jedoch nicht. ) Obwohl Carnap
zulässt , bestimmte Sätze über Werte und Wertungen hätten kognitive Bedeutung , fallen
„value statements“, die damit nur eine Teilklasse von Sätzen über Werte und Wertungen
darstellen , für ihn nicht in diese Kategorie. Außerdem will Carnap mit seiner Ablehnung
von Versionen des Emotivismus , die nur auf den Ausdruck von kurzzeitigen Emotionen
abstellen , hervorheben , ihm gehe es um den Ausdruck stabilerer , länger anhaltender ge-
fühls- und willensmäßiger Einstellungen. Letztlich ist Carnaps Nonkognitivismus aber
nur die Interpretation , die er seinen Wertsätzen gibt. Seine Position besagt nichts über die
Interpretation von Wert- und Normsätzen anderer :
Everyone has the right to determine the interpretation of any statement he makes ; and the
reader has to accept the interpretation of the author unless he finds a discrepancy between
the interpretation explicitly stated by the author and that implied in the way in which the
author uses the statement or argues about it. ( Carnap 1963c , 1000 )
Carnap will seine Wertsätze also als Ausdruck von gefühls- und willensmäßigen Einstel-
lungen verstanden wissen. Folgen wir ihm in diesem Sinne , soweit es um seine Wertsät-
ze geht.
Zur Verteidigung gegen Kaplans Vorwürfe gibt Carnap zu bedenken , er habe kaum et-
was über Werte geschrieben.200 Er distanziert sich sogar von einigem , was er geschrieben
habe. Insbesondere distanziert er sich von den Formulierungen in Philosophy and Logical
Syntax , die Kaplan als Belegstelle heranzog. Er räumt gegenüber Kaplan nämlich zwei-
erlei ein :
1. Es sei nicht notwendig , dass ein Satz non-kognitiv sei , um eine normative Funktion
zu erfüllen. ( Carnap 1963c , 1000 )
2. Ein Satz habe eine kognitive Komponente , wenn er einerseits einen Vorschlag , einen
Befehl oder Ähnliches ausdrücke und andererseits einen Tatsachensatz impliziere ( zum
Beispiel einen Grund oder eine Konsequenz der vorgeschlagenen Handlung ), wie es das
200 Wobei auch Schweigen ein Kommentar sein kann , insofern damit beispielsweise zu verstehen gege-
ben wird , Wertsätze seien nicht von der Art , die eine Behandlung durch eine wissenschaftliche Phi-
losophie möglich machen würde.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441