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5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen
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den , nur geben , wo es Öffentlichkeit gibt und Moral zwischen den Menschen als Meh-
rere gestaltet wird. Mit der Möglichkeit eines gemeinschaftlichen Dezisionismus hat sich
Carnap nie auseinandergesetzt. Auch nicht mit der Frage , ob in einem gemeinschaftlichen
Dezisionismus sinnvoll von intersubjektiv geltenden Urteilen gesprochen werden kann.
Bei allem ist Carnap kein Dogmatiker , der aufgrund zweier vieldiskutierter Dogmen
eine Behandlung von moralischen Fragen in der Philosophie ein für alle Mal ausgeschlos-
sen hätte. Was die Philosophie für die Moral anbieten kann , ist jedoch sehr beschränkt.
( Dasselbe gilt aber auch für die Wissenschaften. ) Bis zum Schluss blieb dies auf mögliche
Sprachen beschränkt , die jedoch neue Horizonte eröffnen könnten ( anstatt wie die tra-
ditionelle Moral die Möglichkeiten in engen Grenzen zu halten ). Grundsätzlich scheint
hier Carnap keine einschränkenden Vorgaben zu akzeptieren.
Mit anderen Grundannahmen , die Carnaps philosophischer Ansatz nicht ausschließt ,
wäre auch eine andere , umfassendere Wertphilosophie und Ethik möglich gewesen. Bei
Kraft und Schlick werden wir eine solche finden , weil diese unter anderem nicht davon
ausgehen , bei moralischen Urteilen handle es sich um reine Optative.
Als Verdienst von Carnaps Position ab 1929 bleibt bei aller Kritik , dass sie die Unter-
schiede zwischen faktischen und moralischen Sätzen betont , auch wenn in der Betonung
der Differenzen die Gemeinsamkeiten nicht beachtet wurden , wie Pauer-Studer ( 1993 ,
535 ) zuzustimmen ist. Des Weiteren hat die Ablehnung von Wertabsolutismus und me-
taphysischem Intuitionismus , auf den Pauer-Studer weiters hinweist , gerade auch durch
Carnap den Weg zu anderen Versuchen der Moralbegründung geebnet , wenn auch nicht
bei Carnap selbst. Und nicht zuletzt bleibt als Verdienst von Carnaps Arbeiten die Forde-
rung nach einer möglichst klaren Sprache und die Ansätze einer Logik der Optative. Die
Logik ( oder Logistik ) hat hier der Ethik einen gangbaren Weg gezeigt.204 Bei allen Ver-
diensten hat Carnap jedoch nicht gesehen , dass die Philosophie der Moral und dem Le-
ben auch direkter dienen kann.
Carnap hatte ein tiefes Bedürfnis nach begrifflicher Ordnung. Diese radikale Ratio-
nalität konnte manchmal als Kälte und Rücksichtslosigkeit gedeutet werden , führt Mor-
mann aus :
Für Neurath wurde der rigorose Objektivismus und Rationalismus Carnaps unerträglich. Am
Ende beschuldigte er Carnap , ein erbarmungsloser preußisch-lutherischer Eiferer zu sein ,
der im Namen von Objektivität und Wissenschaft bereit sei , persönliche Beziehungen aufs
Spiel zu setzen. ( Mormann 2000 , 35 ; siehe unten im Neurath-Kapitel )
204 „Nun ist der Terminus ‚Logistik‘ 1904 auf dem internationalen Kongreß für Philosophie von Fach-
leuten dieses Bereichs vorgeschlagen worden. Er hat sich aber hauptsächlich bei den Gegnern des da-
mit verbundenen Programms durchgesetzt. ‚Logistik‘ , die Endung ‚istik‘ klingt ein wenig nach Über-
treibung und Radikalität. ‚Logisch‘ und ‚logistisch‘ , das klingt wie ‚national‘ und ‚nationalistisch‘ , die
Logistik ist also die Übertreibung dessen , was in seinen vernünftigen Grenzen unsere gute alte Lo-
gik war.“ ( Patzig 1966 , 130 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441