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6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben
174 Diese Beispiele zeigen , dass Schlichtheit für Verträglichkeit nicht notwendig ist. Doch
ist Schlichtheit für Verträglichkeit nicht zumindest hinreichend und somit eine gute Wahl ,
um Verträglichkeit zu erreichen ? Nein , Schlichtheit ist auch nicht hinreichend. Nicht-
raucher , die nur unter Nichtrauchern sein wollen , und Raucherinnen , die nur unter Rau-
cherinnen sein wollen , sind beide schlicht , doch nicht miteinander verträglich. Im Höf-
lichkeits-Beispiel sind Menschen der Gruppen a und d schlicht , jedoch nicht verträglich.
Die höflichen empfindlichen vertragen sich mit den unhöflichen unempfindlichen nicht.
Schlichtheit ist zwar hinreichend für Selbstverträglichkeit , aber sie ist nicht notwendig
für Selbstverträglichkeit. ( Selbstverträglichkeit braucht keine Schlichtheit. ) Es gibt selbst-
verträgliche Menschen , die nicht schlicht sind , d. h. solche , die , obwohl sie nicht schlicht
sind , innerhalb einer Gruppe der Übereinstimmung mit allen verkehren können. In un-
serem Beispiel sind Menschen der Gruppe b selbstverträglich , ohne schlicht zu sein. Sie
selbst sind höflich und in dieser Höflichkeit selbstverträglich , aber gleichgültig dahinge-
hend , ob die Menschen der anderen Gruppen höflich oder unhöflich sind. ( Menger 1934a
[ 1997 , 174 ])
Schließlich lässt sich auch noch die Relation der Allverträglichkeit definieren :
Allverträglichkeit : Wer mit allen Menschen verträglich ist , ist allverträglich. Allverträg-
lichkeit braucht also Selbstverträglichkeit und Verträglichkeit mit allen anderen Grup-
pen.231
Im letzten Kapitel „Logik , Phantasie , Wirklichkeit , Wertungen“ führt Menger noch
den Begriff der Willensvereinigung ein :
Denken wir einen großen Menschenkreis so in Gruppen verteilt , daß zwischen den Mitglie-
dern jeder einzelnen Gruppe hinsichtlich der Kodizes keine wichtigen Gegensätze bestehen ,
und denken wir nun für jede einzelne Gruppe hinsichtlich jeder praktisch in Betracht kom-
menden Verhaltensweise eine der Normen , welche von allen Mitgliedern der Gruppe , denen
sie wichtig ist , zugelassen wird , zum Gesetz für die betreffende Gruppe gemacht ! Wir wol-
len eine mit einem solchen ( von jedem Mitglied in allen ihm wichtigen Punkten gebillig-
ten ) Kodex versehene Gruppe eine Willensvereinigung nennen. ( Menger 1934a [ 1997 , 200 ])
Dieses Modell könnte eine Gruppe von Menschen , beispielsweise eine , die sich auf ei-
ner einsamen Insel findet , benutzen , wenn sie feststellt , dass sie aus Gruppen besteht , die
miteinander unverträglich sind. Darauf geht Menger im Nachwort zur englischen Aus-
gabe näher ein. Traditionellerweise würde entweder eine der bereits anerkannten Normen
den sie bislang Ablehnenden aufgezwungen , sei es durch Diktat eines Einzelnen , einer
kleinen Gruppe , einer ziemlich großen Minderheit oder wie im Namen der Demokratie
231 Hannes Leitgeb hat darüber hinaus gezeigt , dass , wenn je zwei sich in ihrem Normensystem einigen
können , es dann mindestens ein Normensystem gibt , auf das sich alle einigen können. ( Siegetsleit-
ner / Leitgeb 2010 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441