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6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben
178 Zuerst will ich nach möglichen inhaltlichen Beschränkungen fragen. Sind bei Menger
an Normensysteme inhaltliche Forderungen gestellt , um als „Moral“ gelten zu können ?
Implizit scheint Menger solche zusätzlichen Kriterien anzunehmen , da er Moral von an-
deren Bereichen unterscheidet. Sinn und Zweck von Moralen scheint letztlich die Befrie-
digung möglichst vieler persönlicher Vorlieben zu sein und ( als Voraussetzung dafür ) die
Vermeidung von Konflikten , d. h. die Ermöglichung möglichst großer Verträglichkeits-
gruppen , wie seine Kritik am Kategorischen Imperativ , die ich gleich darstellen werde ,
implizit voraussetzt. Explizit macht Menger jedoch keine inhaltlichen Einschränkungen
und auch unter dem Erfordernis , möglichst große Verträglichkeitsgruppen ( bis hin zu uni-
verseller Harmonie ) zu ermöglichen , können die Inhalte der Normen der Moralen sehr
umfangreich sein. Wie weit sein inhaltliches Verständnis von Moral greift , zeigen nicht
zuletzt auch die gewählten Beispiele wie die Einteilung von Gruppen nach höflich / un-
höflich. Viele würden dies inhaltlich ( und möglicherweise auch aus formalen Gründen )
eher dem Bereich der Etikette zuordnen als der Moral. Als weitere Beispiele verwendet er
in seinen ethischen Schriften z. B. das Zusammenleben von Weißen und Schwarzen , die
Verträglichkeit von autokratischen und unterwürfigen Menschen. Bei allen diesen Bei-
spielen geht es um das menschliche Zusammenleben , aber in sehr unspezifischer Weise.
Um inhaltliche Grenzen zu anderen Regelsystemen ist Menger nicht bemüht :
Ich nun werde , unbekümmert um die verschwommenen Grenzen zwischen Moral einer-
seits und Recht , Wirtschaftlichkeit , Hygiene usw. andererseits , die ich weder zu verlöschen
noch deutlich zu ziehen suchen werde , da beides für meine Zwecke belanglos wäre , mög-
lichst allgemein das menschliche Verhalten und seine Regelung untersuchen. ( Menger 1934a
[ 1997 , 68 ])
Wer die Moral von Recht , Wirtschaft und Hygiene zu sehr abgrenze , müsse zumindest
akzeptieren , „daß die Ethik die den modernen Menschen am meisten bewegenden Fra-
gen nicht behandelt“ ( Menger 1934a [ 1997 , 68 ]). Daran scheint ihm nicht gelegen zu sein ,
wobei Menger diese Fragen nicht weiter erläutert.
Gibt es Anforderungen formaler Natur , mithin formale Kriterien dafür , welches Sys-
tem der Verhaltensregelung als Moral 1. Stufe gelten kann und welches nicht ? Nein. Ins-
besondere lehnt Menger für Moralen eine Forderung nach Allgemeingültigkeit ab. Die
Forderungen müssen nicht für alle , überall und für immer gelten , um als moralische For-
derungen gelten zu können. ( Menger 1934a [ 1997 , 66 ]) U. a. ist damit auch für die Mo-
ral nicht Schlichtheit zu fordern.233 Adressatinnen oder Adressaten der jeweiligen Impe-
rative müssen nicht alle sein , nicht für alle die inhaltlich gleichen Normen gelten. Wer
deshalb ein Normensystem billigt , billigt nicht notwendigerweise , dass für alle dieselben
233 Angesichts der Vielfalt menschlicher Beziehungen nach Ort und Zeit scheint Menger eine einheit-
liche Regelung gar nicht wünschenswert. ( Menger 1934a [ 1997 , 66 ])
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441