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6.4 Mengers Ethikverständnis
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Warum er diese Probleme nicht behandeln will , führt Menger näher in Abschnitt II
aus , den er „erkenntnistheoretisch-logische Aufzeichnungen über Gut und Böse“ nennt.
Neben Ausführungen über die individuelle Moralentwicklung hält er u. a. fest , die Aus-
drücke „gut“ und „böse“ würden von unterschiedlichen Menschen und Bevölkerungs-
gruppen auch verschieden gebraucht. Dies sei nach Menger von der Philosophie hinzu-
nehmen und nicht nach „angemessen“ oder „unangemessen“ zu beurteilen. Zugleich mit
den Worten „gut“ und „böse“ lerne ein Kind auch den Gebrauch des Wortes „sollen“, das
ebenfalls mehrdeutig bleibe. Zunächst verstehe ein Kind die Worte von Erziehenden „du
sollst dies tun“ als Ausdruck des Wunsches der Erziehenden , das entsprechende Verhal-
ten zu zeigen , und einer damit verbundenen Drohung , die Unterlassung werde gegebe-
nenfalls bestraft. Später lerne es noch weitere Gebrauchsweisen des Ausdrucks „sollen“,
welcher schließlich mit einigen Äquivokationen behaftet sei :
„Du sollst“ kann Ausdruck eines Wunsches des Sprechenden oder Wiedergabe des Wun-
sches eines Dritten sein oder Übereinstimmung des als gesollt Bezeichneten mit einem
( eventuell als selbstverständlicher Bezugspunkt angenommenen und gar nicht eigens ge-
nannten ) System von Normen , vor allem von Rechtsnormen , ausdrücken oder synonym mit
„gut“ verwendet werden. ( Menger 1934a [ 1997 , 73 ])
Auch dieses hat die Ethik als Faktum hinzunehmen und nicht autoritativ zu entscheiden.
Ebenso hält Menger den Rückgriff auf Grundnormen ( Ideale ) als Antwort auf die Fra-
ge „Welche Verhaltensweisen sind gut ?“ bzw. „Was sollen wir tun ?“ für zwecklos und die
Suche danach somit auch nicht für eine hilfreiche Aufgabenstellung der Ethik , weder als
deskriptives noch als normatives Unternehmen. Bei sämtlichen gebräuchlichen Antwor-
ten „was dem Willen der Natur entspricht“, „was gerecht ist“, „was dem Streben nach Ver-
vollkommnung entspricht“, „was die Pflicht befiehlt“ und „wie es dem Wohl von irgend-
etwas entspricht“ seien letztlich nähere Festsetzungen unumgänglich :
Sind aber diese Festsetzungen getroffen , dann ist das einzig praktisch Relevante eben das be-
treffende System von Geboten und Verboten , seine Benennung mit dem Ideal aber spielt le-
diglich die Rolle einer verbalen Verbrämung. ( Menger 1934a [ 1997 , 82 ])
Auch mit Zwischenschichten speziellerer Normen sei kein deduktives System anzugeben ,
in dem immer konkretere Normen aus den allgemeineren der vorangehenden Schicht de-
duzierbar wären. ( Menger 1934a [ 1997 , 84 ff. ])
Desgleichen hält Menger die Suche nach universellen Normen in bestehenden Moral-
systemen für zwecklos :
Die sogenannten allgemeinen Normen , von welchen man sagt , daß sie den gemeinsamen
Ausdruck des Willens und der sittlichen Anschauungen der ganzen Menschheit darstel-
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441