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6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben
188 len , diese Sätze enthalten , so sehr sich viele Ethiker um sie bemühen und für sie einsetzen ,
überhaupt keine konkreten Vorschriften , entsprechen daher überhaupt keinen tatsächlichen
Ansichten oder Wünschen irgendeines Menschen oder irgendeiner Menschengruppe , und
wenn man sie nicht ausspräche , so wäre das Verhältnis der Menschen genauso geregelt , wie
wenn man sie ausspricht , weshalb ich für meine Person sie gar nicht ausspreche. ( Menger
1934a [ 1997 , 107 ])
Nach Menger hat Ethik auch nicht die Aufgabe , ein bestimmtes Moralsystem mit An-
spruch auf Allgemeingültigkeit aufzustellen. Ethik hat nach seinem Verständnis über-
haupt keine Werturteile zu fällen , keine Normen zu billigen oder zu missbilligen. Eine
normative Ethik kommt für ihn nicht infrage. In der Ethik als einem wissenschaftlichen
Unternehmen gehe es nicht um wertende Aussagen , die für ihn nur gefühlsmäßig und eine
Frage persönlicher Haltung sein können. ( Menger 1934a [ 1997 , 121 ])
Welche Moralen 1. oder 2. Stufe gewählt werden sollten , dafür will Menger weder
einen Rat noch eine Empfehlung abgeben und schon gar keine Vorschriften machen.
Ebenso wenig wie seine Haltungen in die Wahl einer Moral 1. Stufe einfließen soll-
ten , geht es in der Schrift darum , welche Regelung der menschlichen Beziehungen sei-
nen Wünschen entspricht. Er betont wiederholt , dass sein Buch keine Werturteile ent-
hält ( auch z. B. in Menger 1994 , 191 ). Nur im letzten Kapitel teilt Menger mit , die dort
vorgestellte Verfassung mit großen persönlichen Entscheidungsspielräumen treffe sei-
nen persönlichen Geschmack , wie er Jahrzehnte später noch einmal bekräftigt ( etwa in
Menger 1994 , 190 ).
Ethikerinnen und Ethiker hätten nicht zu werten , sondern zu erkennen. Den Bereich
der Erkenntnis in Bezug auf ethische und moralische Fragen hält Menger für sehr be-
grenzt :
[ … ], all a moral philosopher can do is to express his decisions concerning α and β or A and
B , and to tell what in a similar dilemma he himself did or would do or , at any rate , wishes
others to believe that he would do. What he says may greatly comfort persons in the dilem-
ma or strongly influence them. With cognitive processes , however , these and all other moral
judgments of investigators have nothing to do. ( Menger 1974 , 97 )
Deshalb will er auch auf die Frage , welche Regelung getroffen werden solle , nicht ant-
worten :
Nun aber fragst du , wie eine Regelung erfolgen solle ! Als Ethiker muß ich mich darauf be-
schränken , zu erforschen , wie sie tatsächlich erfolgt , und zu untersuchen , wie sie erfolgen
kann , wobei mein Bemühen natürlich vor allem dahin gehen muß , dich auf Möglichkeiten
hinzuweisen , die dir vielleicht entgangen oder nicht voll bewußt geworden sind. Aber was
deine Frage betrifft , wie die Regelung erfolgen solle , so weißt du , daß ich ganz allgemein die
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441