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7.1 Einleitung
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Das Verhältnis zwischen Neurath und Schlick war ein gespanntes , was zumeist ihrem un-
terschiedlichen Temperament zugeschrieben wird. Neurath selbst sah die Ursache hier-
für jedoch vielmehr in Schlicks mangelndem Respekt ihm gegenüber. Schlick habe ihn
nie als Gleichen anerkannt , sondern ihn in der Haltung eines „Bonzen“ wie einen Schul-
jungen herabgewürdigt und gedemütigt. ( Neurath an Carnap , 22. September 1945 , Nach-
lass Neurath , Inv.-Nr. 223 )256
I am for peaceful contacts. But I am not prepared to swallow humiliation. Really not. ( Neurath
an Carnap , 28. September 1945 , Nachlass Neurath , Inv.-Nr. 223 )
Nur als treibende Kraft zu gelten , empfand er als eine weitere Demütigung :
[ … ] I think that I , to a certain extent , am one of the pillars of this movement , not only its
“promoter” as people sometimes like to treat me. ( Neurath an Carnap , 22. September 1945 , 6 ,
nicht abgeschickt , Nachlass Neurath , Inv.-Nr. 223 )
Neurath war wie Hahn und Frank bereits Mitglied im Ersten Wiener Kreis , der sich nicht
nur auf Formal- und Naturwissenschaftler beschränkte ,257 sondern beispielsweise auch ka-
tholische Theologen umfasste. Entgegen dem Bild auf natur- und formalwissenschaftliche
Interessen beschränkter Wissenschaftler gab es
[ d ]iscussions about the Old and New Testament , the Jewish Talmud , St. Augustine , and the
medieval schoolmen [ … ]. Otto Neurath even enrolled for one year in the Divinity School of
the University in order to get an adequate picture of Catholic philosophy , and won an award
for the best paper on moral theology. ( Frank 1949 , 2 )
Neuraths Interessen und Aktivitäten waren auch später äußerst breit gestreut. Er interes-
sierte sich wie die meisten des Kreises für Physik , Mathematik und Logik. Darüber hin-
256 Neurath war aus Gründen , auf die ich weiter unten eingehen werde , eine universitäre Karriere ver-
sagt , und er führte in einem sehr ausführlichen Schreiben an Carnap , das er wenige Monate vor sei-
nem Tod aufsetzte , die Tatsache , dass seine Beiträge von namhaften Kollegen zwar inhaltlich , aber
ohne seinen Namen zu nennen , gewürdigt würden , auf seine mangelnde gesellschaftliche Stellung
zurück : “[ … ] the feeling , that people would behave differently , when I where a ‘Bonze’ , a ‘professor’
etc.” ( Neurath an Carnap , 22. September 1945 , 5 , nicht abgeschickt , Nachlass Neurath , Inv.-Nr. 223 )
Auch Carnap machte er diesen Vorwurf : “The same is on your own case. The non-quoting me be-
longs to the humiliating things in many cases. The not regarding a person as sufficiently important ,
that his remarks have to be taken seriously. One may use them , but why quote them.” ( Neurath an
Carnap , 24. September 1945 , 2 , Nachlass Neurath , Inv.-Nr. 223 )
257 Da für den Ersten Wiener Kreis kaum Namen genannt werden , bleibt unklar , ob auch Frauen dar-
an teilgenommen haben.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441