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7. Otto Neurath : Moral
200 vehement gegen die spekulative Geschichtsphilosophie Oswald Spenglers aus und en-
gagierte sich u. a. als Vortragender an der Arbeiterhochschule im Bildungswesen der so-
zialdemokratischen Partei. Wie schon im Kapitel über moralisches und politisches En-
gagement angesprochen , publizierte Neurath wie Hahn in der sozialdemokratischen
Monatsschrift Der Kampf und war vielfältig politisch tätig , wenngleich stets als politi-
scher Außenseiter :
Zum Teil wohl aus seiner eigenen Abneigung gegen direkte politische Betätigung – zu sehr
fühlte er sich immer noch , wie zuvor in München , mehr zum Gesellschaftstechniker denn
zum eigentlichen politischen Funktionär berufen – zum Teil wohl auch , weil die Partei sei-
nen Vorstellungen von der Neugestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft mit beträchtli-
cher Skepsis gegenüberstand. Er war nie gewählter öffentlicher Mandatar der Partei oder
auch nur Kandidat für ein öffentliches Amt und bekleidete auch nie irgendwelche Funktio-
nen innerhalb der Partei selbst. ( Neurath P. 1994 , 75 )
In diese Zeit fallen auch Neuraths Teilnahme am Wiener Kreis , Vorträge am Bauhaus in
Dessau und in den 1920er-Jahren eine Reihe kurzer Geschichten mit Betrachtungen über
das Leben , die u. a. mit „La-Se-Fe“ gezeichnet waren.267
1934 drohte Neurath die Verhaftung. Er floh von Moskau , wo er sich gerade im Rah-
men seiner Arbeiten an Bildstatistik aufhielt , nach Den Haag. Dort entwickelte er sein
Bildstatistik-Projekt weiter und organisierte die Unity-of-Science-Bewe gung. In Planung
war unter anderem die Internationale Enzyklopädie der Einheit der Wissenschaft. ( Zu beidem
siehe Abschnitt 7. 3. 4.1 unten. )268 Vier Tage nach der Invasion der Deutschen Wehrmacht
in Holland musste Neurath erneut fliehen. Dieses Mal entkam er auf einem kleinen Ret-
tungsboot nach England.269 Dort widmete er sich abermals dem Bildstatistik-Projekt und
der Einheitswissenschaft in Form der International Encyclopedia of Unified Science. Beide
Projekte verlieren mit dem unvermittelten Tod Neuraths im Dezember 1945 ihre treiben-
de Kraft. ( Vgl. u. a. Geier 1992 , 17 ff. )270
267 Siehe Neurath P. ( 1994 , 82 f. ). Eine Geschichte heißt „Das kleine Gespräch von den Tugenden“ und
enthält folgende Ausführungen : „Glücklich sind die , welche lieben dürfen , glücklich sind die , wel-
che geliebt werden ; glücklich sind die , welche einen finden , mit dem sie gütig sein wollen , glücklich
sind die , welche einen Freund finden , der sie lockt , ihm gutes zu tun ; wohl denen , welche durch un-
ablässiges Bemühen allem entflohen , was sie ungütig macht , und die alles aufsuchten , was sie milde
und froh , gütig und heiter , liebend und glücklich macht. [ … ] Wo ihr nicht gültig [ sic ! Von Neurath
in ‚gütig‘ verbessert ] sein könnt , dort ist nicht eure Stadt.“ ( Neurath [ La-Se-Fe ] 1922 )
268 Olga Neurath-Hahn stirbt 1937 an einer Nierenoperation.
269 Zusammen mit Marie Reidemeister , die Neurath nach der Flucht heiraten wird.
270 Kurz vor seinem Tod wurde Neurath noch als Berater für einen Stadtteil in Bilston beigezogen , in der
die menschlichen und gesellschaftlichen Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner besonders
berücksichtigt werden sollten. Auf Anregung Neuraths wurden u. a. die Wohnungen für alte Men-
schen nicht in eigene Wohnblöcke abgesondert , sondern unter Berücksichtigung ihrer besonderen
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441