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7. Otto Neurath : Moral
208 Das Zaudern und Schwanken der zum Handeln Berufenen , der Rat meiner Freunde und
manche Zufälle veranlaßten mich , endlich nach langem Bedenken das Leben der Beschau-
lichkeit abzuschließen und das der Tat zu beginnen , um eine beglückende Verwaltungswirt-
schaft heraufführen zu helfen. ( Neurath 1919b , VII )
In der Münchner Räterepublik bekam Neurath als Präsident des Zentralwirtschaftsam-
tes die Gelegenheit , seine wirtschaftlichen Vorstellungen zu verwirklichen. Diese politi-
sche Ordnung scheiterte jedoch bald und wird Neurath nach kurzer Haftzeit zurück nach
Wien bringen. Dazu jedoch weiter unten.281
Neurath tritt für eine Verwaltungswirtschaft mit sozialistischer Verteilung ein :
das heißt : einer Verteilung , welche nach allgemein gültigen Grundsätzen unter Berücksichti-
gung persönlicher Leistungen und persönlicher Eigentümlichkeiten , wie Alter , Geschlecht und
Gesundheitszustand usw. erfolgt , aber keine Gruppenvorrechte , keine Vorrechte der Geburt ,
des Standes , des Erbrechtes usw. kennt. ( Neurath 1919d [ 1919a , 209 ])
Die Ökonomie ist für Neurath nicht auf Marktwirtschaft beschränkt , sondern ihr Ge-
genstand ist , wie bei Aristoteles , mit dessen Ansichten sich Neurath bereits in seiner Dis-
sertation beschäftigte , der Reichtum. Reichtum kann für Neurath nicht in Geldeinhei-
ten erfasst werden. Reichtum sei vielmehr der „Inbegriff von Lust und Unlust [ … ], den
wir bei einem Individuum oder einer Individuengruppe antreffen“ ( Neurath 1913b [ 1981a ,
69 ]). Diesen Grundgedanken formulierte Neurath nicht zuletzt 1911 in „Nationalökono-
mie und Wertlehre , eine systematische Untersuchung“:
Unter Reichtum wollen wir den Inbegriff von Lust und Unlust verstehen , den wir bei Indi-
viduen und Individuengruppen antreffen. Der Ausdruck Lust hat den Vorteil , nach unserem
Sprachgebrauch komplizierte und primitive Tatbestände gleichzeitig zu umfassen.
( Neurath 1911 [ 1998a , 471 ])
Auch in „Das Problem des Lustmaximums“ hieß es ein Jahr später :
Seitdem die englischen Utilitaristen den Begriff „Lustmaximum einer menschlichen Gesell-
schaft“ populär gemacht haben , ist dieser Begriff in der Wissenschaft nie mehr ganz aus der
Mode gekommen. Die Erörterungen über das Lustmaximum haben besonders auf dem Ge-
biete der Rechts- und Moralphilosophie Früchte getragen. [ … ]
Die Nationalökonomie hingegen hat von dieser Seite her wenig Anregung erfahren , ob-
zwar man gerade hier einen kräftigen Einfluß erwarten sollte. Was wäre naheliegender , als
281 In Wien versuchte er in der Baugilde die Trennung von Produktion und Konsumation aufzuheben.
Schon 1923 waren seine Erwartungen gedämpft. ( Hofmann 1982 , 146 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441