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7.3 Neuraths Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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Diesseitsorientierung heißt für Neurath eine Orientierung hin auf die Menschen und ihr
Glück. Jenseitsbezogenes , theologisches Denken würde hiervon ablenken. Neurath meint ,
mit dieser Diesseitsorientierung am ehesten bei den modernen Logikerinnen und Logi-
kern sowie den Physikerinnen und Physikern anknüpfen zu können :
Sich zum Materialismus bekennen heißt heute , der bürgerlichen Geistigkeit entgegentre-
ten und eine neue Denkweise mit heraufführen , eine neue Volksphilosophie , die durchaus an-
titheologisch geartet sein wird und am ehesten an gewisse exakte Denker unter den moder-
nen Logikern und Physikern anknüpft. ( Neurath 1928 [ 1981a , 284 ])289
In Neuraths idealen Lebensgrundsätzen geht es um die Menschen und das Glück. Die-
se bildeten den Bewertungsmaßstab , weder die Geschichte , der Geist , ein Gott oder was
immer theologisierend oder idealisierend als alternative Bezugs- und Wertequelle ange-
boten werde. Ganz wie bei Epikur :
Bei ihm und seinen Schülern finden wir keine überirdischen Ideen , in den Wolken thronend.
Die Götter , sollten sie da sein , kümmern sich nicht um die Menschen , wozu sollten sich die
Menschen um sie kümmern ? Menschen , die hier auf der Erde das Leid und den Schmerz
fliehen und gut zueinander sein wollen , die gehen uns an , das Glück , die Freundschaft , das
Leben , wie es hier auf der Erde wirklich gelebt wird ; Spekulation dagegen nur , soweit sie das
Leben gestalten hilft und glücklich macht : „Philosophie ist Tätigkeit in Gedanken und Re-
den , die ein glückliches Leben schafft.“ Vielerlei Lebensweisen , vielerlei Denkweisen sind
nebeneinander möglich , und jeder entscheidet sich für die , die ihm Glück bringt. „Keine
Lust ist an sich ein Übel“, verworfen wird nur , was Leid bringt. ( Neurath 1928 [ 1981a , 285 ])290
Vor allem in diesem Kapitel stellt Neurath seine moralische Position dar und nennt den
Marxismus wie schon in Wirtschaftsplan und Naturalrechnung ( Neurath 1925 , 26 f. , 108 )
eine Art Sozialepikureismus.291 Ihm gehe es wie ähnlichen Strömungen um das Glück der
Menschheit , d. h. aller Menschen. Im Unterschied zu anderen Strömungen sehe der Mar-
xismus jedoch , dass dies nur durch eine Umge staltung der Lebensordnung erreicht wer-
den könne :
289 Auch weiter unten behauptet Neurath , „die Pflege der reinen Logik und der allgemeinsten Probleme
der Mathematik und Physik [ seien ] dem revolutionären Denken besonders günstig“. ( Neurath 1928
[ 1981a , 291 ]) Obwohl es auch an dieser Stelle anzumerken gilt , wie wenig Logik für sich genommen
in Neuraths Augen revolutionär oder progressiv ist.
290 Epikur ließ zudem Frauen sowie Sklavinnen und Sklaven zum Philosophieren zu , was Neurath aus-
drücklich erwähnt. ( Neurath 1928 [ 1981a , 285 ])
291 Neurath zählte übrigens nie zu den politischen Theoretikerinnen und Theoretikern des Austromar-
xismus. Auch sein Konzept des Sozialepikureismus fand keinen Eingang in programmatische De-
batten. ( Sandner 2006 , 254 f. )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441