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7.3 Neuraths Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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Individuen und bei Neurath auch Kollektive handeln. ( Siehe dazu auch Dahms 1994 , 118
und v. a. Schnädelbach 1986 , 62 ff. )293 Die Gesinnung des Einzelnen interessiert Neurath
nur insofern , als diese auf die Güterverteilung wirkt. Dies sei im Kapitalismus nicht der
Fall. Denn im Kapitalismus würde auch der noch so liebenswürdige , freundliche Einzel-
unternehmer gezwungen sein , unter der Strafe des Konkurses Mitarbeiter „abzubauen
und auf die Straße zu werfen“ und „Not und Elend um sich zu verbreiten“. ( Neurath 1928
[ 1981a , 239 ]) Das Spiel , so ließe sich formulieren , gibt die Regeln vor , und es gibt keine
Möglichkeit , einzeln und erfolgreich nach anderen Regeln mitzuspielen. Deshalb kriti-
siert Neurath nicht zuletzt die Wirtschaftsmoral der anthroposophischen Bewegung. An
erster Stelle stehe in dieser die Sorge um die „Anständigkeit“ des bürgerlichen Unterneh-
mers. Früher wären Kaufmann und Bankier an gute alte Sitten gebunden gewesen. Was
diese „gute alte Zeit“ für die Arbeiterinnen und Arbeiter bedeutet hatte , „wurde nicht ein-
mal berührt“. ( Neurath 1928 [ 1981a , 267 ])
Dieser Sozialepikureismus bildet auch 1928 den normativen Rahmen zur Analyse und
Kritik gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge. Aufgrund dieser normativen
Ausrichtung brauche es eine völlige Umgestaltung der Lebensordnung. Vorsichtig stellt
sich Neurath diese als „Verwaltungswirtschaft ohne Reingewinnrechnung auf Grund ei-
nes Wirtschaftsplanes“ vor.
Rationalisierungen im Kapitalismus kritisierte Neurath aufs Schärfste :
Rationalisierung bringt , wie jede plötzliche Produktionssteigerung , Krise , d. h. Not. Auch
eine durchaus wirtschaftliche Ordnung kann ungerecht sein , wenn das Produkt ungleich ver-
teilt wird. ( Neurath 1928 [ 1981a , 238 ])
Innerhalb einer kapitalistischen Ordnung habe eine Rationalisierung nämlich desaströse
Auswirkungen auf die Arbeiterinnen und Arbeiter. Diese bekämen nur die Nachteile zu
spüren , nichts von den Vorteilen. Innerhalb einer sozialistischen Wirtschaftsordnung wäre
Rationalisierung hingegen für alle von Vorteil ( Neurath 1928 [ 1981a , 263 ]):
Die sozialistische Verwaltungswirtschaft kann neue Arbeit sparende Maschinen , neue Ar-
beit sparende Methoden einführen , ohne daß dadurch bestimmte Arbeitergruppen wie heu-
te brotlos würden , es gibt keine Freisetzung einzelner. Alle Erleichterungen verteilen sich auf
die Gesamtheit. ( Neurath 1928 [ 1981a , 241 ])
Doch auch Medienkritik ist in Lebensgestaltung und Klassenkampf zu finden :
293 Die Klasse bestimmt nach Neurath die Interessenslage : „Man dachte wohl gar an eine eigene Frauen-
partei und erhoffte sich vom Frauenwahlrecht wesentlich Neues , da man übersah , daß die geschicht-
lichen Kräfte die Klassen seien. Die gemeinschaftsbildende Kraft der Klassen ist stärker als Frauen-
tum und Jugendtum.“ ( Neurath 1928 [ 1981a , 252 ])
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441