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7.3 Neuraths Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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wird. Sind eine moralische Positionierung und entsprechendes Engagement schon poli-
tisch ? Oder erst ihre institutionelle , „öffentliche“ Umset zung ? Hängt die Grenzziehung
von der politischen Einstellung selbst ab ? Für die Frage nach dem Ort des Politischen im
Wiener Kreis ist dies ein entscheidender Punkt. Was den einen bereits als Politik gilt , ist
den anderen dem Politischen noch vor- oder beigeordnet.
Die wissenschaftliche Weltauffassung im umfassenden Sinne ( Bedeutung 3 ) ist poli-
tischen Positionen gegenüber klarerweise nicht neutral , da sie solche mit umfasst. Selbst
für eine wissenschaftliche Weltauffassung im umfassenden Sinne stehen jedoch mehre-
re politische Positionen offen ( zwischen Liberalismus und Sozialismus ), wenn auch nicht
beliebige ( z. B. keine klerikalen oder theokratischen ). Vertreten wurden sowohl eine mehr
sozialistisch ausgerichtete Variante der wissenschaftlichen Weltauff assung im umfassen-
den Sinne als auch eine bürgerlich sozial-liberal ausgerichtete Variante.
Stadler bemängelt , dass die politische Dimension „in Darstellungen nach dem Zwei-
ten Weltkrieg als unwesentliche politische Ambitionen im Vergleich zum wissenschaft-
lichen Programm zwischen Logismus und Empirismus heruntergespielt und rein wis-
senschaftliche Spezialdebatten en detail quasi repräsentativ in den Vordergrund gestellt“
wurden. ( Stadler 1982a , 140 ) Der Logische Empirismus , der sich in den USA schnell
durchsetzte , war lediglich eine Version des Logischen Empirismus , aus dem die sozialen
und politischen Ziele des Aufklärungsprojekts schnell verschwanden , obwohl , so zeigt
Reisch 2005 , die aufklärerischen Intentionen von Morris und Dewey uneingeschränkt
unterstützt wurden. Auch diese „sahen in der Wissenschaft eine organisierte , kollektive
Praxis zur Erforschung von Natur und Gesellschaft , die in ihren Augen das wichtigs-
te Instrument für den Aufbau einer humaneren , friedlichen und ökonomisch gerechten
Welt war“ ( Nemeth 2005 , 22 ). Eine entscheidende Rolle für den deutschen Sprachraum
sieht Mormann hier insbesondere bei Stegmüller , der den Logischen Empirismus reim-
portierte , wobei er die metaphysikkritische und politische Komponente dieser Bewegung
aussparte , was bereits in der Einleitung der vorliegenden Untersuchung thematisiert wur-
de. Stegmüller sei sogar bemüht gewesen , „diese Aspekte zu unterdrücken und stattdes-
sen die angeblich ‚neutralen‘ logischen und wissenschaftstheoretischen Errungenschaf-
ten dieser Bewegung zu feiern“:
Diese „neutrale“ Rezeption des Wiener Kreises wurde noch dadurch verstärkt , daß sich die
Darstellung auf die vermeintlich neutralen formalen Aspekte der Carnapschen Philosophie
beschränkte , während die deutlich politische Konzeption von Mitgliedern des Kreises wie
Hahn , Frank oder Neurath außer Betracht blieb. Die Wiederaufnahme der wissenschafts-
philosophischen Tradition des Wiener Kreises und der Berliner Gruppe fand also von vorn-
herein nur in amputierter Form statt. ( Mormann 2000 , 201 )299
299 Aus Sicht des ursprünglichen Unternehmens sind Logik und Wissenschaftstheorie für sich genom-
men Reste.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441