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7. Otto Neurath : Moral
228 eine besondere Aufgabe festzustellen , was vom überlieferten Bestand in der neuen strengen
Sprache ausdrückbar ist. ( Neurath 1931 [ 1981a , 431 ]) 303
Neurath lehnt auch die nomologische These des methodologischen Individualismus ab ,
der zufolge Gesetze der Soziologie zumindest auf Gesetze der Individualpsychologie zu-
rückführbar seien :
Natürlich ergeben sich bestimmte Korrelationen , die wir bei Individuen , bei Sternen oder
Maschinen nicht antreffen. ( Neurath 1931/32 [ 1981b , 549 ])
Besonders zu betonen ist , dass für Neurath wissenschaftliche Aussagen jedoch immer Ge-
setzesaussagen zum Zwecke der Erklärung oder der Vorhersage zu sein haben. Hierbei
kommt seine Einschränkung von Wissenschaft auf Gesetzes- bzw. Funktionswissenschaf-
ten zu tragen , die für seine Auffassung von Ethik im Rahmen der Einheitswissenschaft
von entscheidender Bedeutung sein wird. Hinzu kommt die Betonung der Kollektivarbeit ,
die Arbeitsteilung , jedoch nicht Arbeitstrennung meint.304 Schon 1910 bemerkte Neurath :
Heute sind wir schließlich dahin gekommen , daß es eine Unmenge Spezialarbeiten über ein
Gebiet geben kann , aber niemand das Gebiet überblickt
– das nennt man dann Arbeitsteilung ,
man sollte es Arbeitstrennung nennen , denn von Arbeitsteilung spricht man doch wohl , wenn
ein Ganzes durch das Zusammenwirken vieler hergestellt wird ; wie wenige sehen heute das
Ganze unserer Wissenschaft , ja nur einer ganzen Disziplin. [ … ] Nicht eine Sammlung von
Spezialarbeiten liefern ein Ganzes , sondern eine Gesamtarbeit vieler. ( Neurath 1910 [ 1981a , 45 ])
Auch die Einheitswissenschaft auf physikalistischer Grundlage sollte in Gesamtarbeit vie-
ler im Sinne einer Orchestrierung entstehen.305 Dem war ab 1934 ein publizistisches Pro-
gramm gewidmet , in dem eine Enzyklopädie der Einheitswissenschaft aufgebaut werden
sollte. Zugrunde lag diesem Neuraths Verständnis der Einheitswissenschaft im Sinne ei-
nes Enzyklopädismus. Die Einheitswissenschaft konnte für ihn nur die Form einer Enzy-
klopädie in dem Sinne haben , dass sie die Gesamtheit des zurzeit zur Verfügung stehen-
den wissenschaftlichen Wissens darstelle. Im Unterschied zu einer Modell-Enzyklopädie
würde diese auch Widersprüche enthalten. ( Neurath 1936b , dazu auch Uebel 2000 , 48 ff. )
Auch wenn Neuraths Programm des Enzyklopädismus , nämlich sein enzyklopädisches
Verständnis des Begriffs der Einheitswissenschaft , vom publizistischen Programm scharf
zu trennen ist und sein Verständnis der Einheitswissenschaft nur wenige Anhänger fand
303 Neurath leitete eine Arbeitsgruppe , die untersuchte , inwiefern Freuds Werke „physikalisiert“ werden
könnten. ( Siehe dazu u. a. Nemeth 2005 , 21 und Frenkel-Brunswik 1954 )
304 Vgl. Durkheim 1893.
305 Vgl. u. a. Neurath 1945 /46.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441