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7. Otto Neurath : Moral
232 sich in einer ähnlichen Lage wie der verirrte Wanderer im Wald des Cartesius : Er sieht nicht ,
an welcher Stelle des Waldes er sich befindet , und muß sich dafür entscheiden , in eine Rich-
tung zu gehen. ( Nemeth 1994 , 127 f. )
Für die Wissenschaft wollte Neurath deshalb zeigen , „daß und wie die Wissenschaften
Produkte gesellschaftlichen und individuellen Handelns sind“ ( Nemeth 1994 , 129 ). Dazu
gehört die Aufklärung darüber , wie Lebensgrundsätze wie beispielsweise eine utilitaris-
tisch-antimetaphysische Haltung die Problemauswahl , die Problemspezifikation und die
Auswahl jener Sätze , die als rechtfertigende zugelassen werden , mitbestimmen.
Für die Moral selbst bedeutet dies , dass in den Entscheidungen die nicht-rationa-
len Elemente offengelegt werden und die Rolle der Übereinkünfte ( Konventionen ) im
Grundverständnis der Moral als menschlichem Unternehmen nicht verdeckt werden. Kei-
ne Lebenspraxis kann nach Neurath in der Gestaltung durch Menschen entzogenen Enti-
täten „letztbegründet“ werden. Insofern ist Neurath in seinem Moralverständnis gemein-
schaftlicher Dezisionist. Damit geht es für ihn um eine gemeinschaftliche Übereinkunft
und nicht um je individuelle Entscheidungen. Wie bei den französischen Konventionalis-
ten geht es bei der Übereinkunft zudem nicht um den Konsens einer idealen Diskussions-
runde ( zu den Konventionalisten siehe Haller 1985 , 344 ), was ihn einen Habermas’schen
Ansatz ablehnen ließe. Neurath selbst würde jedoch , wie der nächste Abschnitt zeigen
wird , bei einer solchen Lebenspraxis auf Grundlage von Lebensgrundsätzen , über die man
gemeinsam übereingekommen ist , nicht unbedingt von „Moral“ sprechen , da er diesen
Ausdruck zu bestimmten Zeiten auf eine sehr enge Moralkonzeption beschränkt. Wissen-
schaft soll auf Grundlage des bislang Erläuterten auch kein Metaphysikersatz sein , son-
dern eine metaphysikfreie Weltauffassung sollte eine metaphysische Auffassung in allen
Lebensbereichen ersetzen. In der Moral kann es daher nur um eine metaphysikfreie Le-
bens- und Handlungseinstellung gehen , nicht um einen Rückzug unter Hinweis auf „wis-
senschaftliche“ Neutralität.313 Was bleibt Wissenschaft und Philosophie in Hinblick auf
eine so verstandene Moral zu tun ?
7.3.4.2 Ethik als soziologische Felicitologie und der Lebenslageansatz
In „Soziologie im Physikalismus“ ( 1931/32 ) geht es Neurath u. a. um die Möglichkeiten
einer Ethik als Wissenschaft. Neurath will nicht mehr von „Philosophie“ sprechen , auch
nicht mehr im Sinne einer Tätigkeit der Begriffsklärung. Die Begriffsklärung gehört für
ihn zum wissenschaftlichen Betrieb dazu. ( Neurath 1931/32 [ 1981b , 534 ]) Er fragt deshalb
nicht mehr , wie Ethik als philosophische Teildisziplin möglich wäre , sondern welche Rol-
le die Soziologie auch für Aufgaben herkömmlicher philosophischer Ethik übernehmen
könne. Auch 1937 in „Die Einheitswissenschaft und ihre Enzyklopädie“ hebt er hervor :
313 „Metaphysikfrei“ im Sinne einer Nicht-Bezugnahme auf für Menschen unzugängliche Entitäten und
Prinzipien.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441