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7.3 Neuraths Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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So hätten auch nicht moralische bzw. theologische Überlegungen die Abschaffung der
Sklaverei bewirkt , sondern wirtschaftliche Rahmenbedingungen :
Man untersucht , unter welchen Bedingungen die Sklaverei den Sklavenbesitzern Vorteile
bringt , unter welchen dagegen nicht. Wenn man die Herren , welche Sklaven freilassen , be-
fragt , warum sie das tun , werden nur wenige sagen , sie seien Gegner der Sklaverei , weil sie
nicht genug Vorteile bringe. Viele werden uns ohne Heuchelei berichten , daß die Lektüre
eines Philosophen zugunsten der Sklaven sie tief beeindruckt habe , andere werden ausführ-
lich den Kampf ihrer Motive beschreiben , werden vielleicht darlegen , wie Sklaverei eigent-
lich das Vorteilhaftere wäre , wie aber der Wunsch , Opfer zu bringen , auf Eigentum zu ver-
zichten , nach langem Kampf der Motive sie zu dem schweren Schritt der Sklavenfreilassung
geführt habe. Wer gewohnt ist , im Sinne des Sozialbehaviorismus zu verfahren , wird den
sehr komplizierten „Reiz“ der Lebensordnung mit Sklavenhaltung vor allem ins Auge fassen
und dann die „Reaktion“ Beibehaltung oder Freilassung der Sklaven untersuchen , um darü-
ber nachzudenken , wieweit die theologischen Lehren über Sklavenfreilassung als „Reiz“, wie-
weit sie als „Reaktion“ in Rechnung gestellt werden können. ( Neurath 1931/32 [ 1981b , 558 ])
Neurath ist auch , wo er von „Ethik“ zu sprechen gewillt ist , lediglich an Wirkungszusam-
menhängen interessiert. An der traditionellen Ethik interessiert ihn nur , was sich nach
Korrelationen empirisch untersuchen lässt , das , wo es gesetzmäßige Zusammenhänge gibt.
Sein Interesse ist ausschließlich auf Mechanismen gerichtet , die gesellschaftliche Ände-
rungen erklären oder herbeiführen können. Insofern er in der Lebenspraxis der Moral , die
in seinem Verständnis von 1931 nur bei der Motivation von Individuen ansetzt und durch
göttliche bzw. kategorische Imperative definiert ist , nicht die wirkende Kraft von Verän-
derungsprozessen sieht , interessiert ihn die Moral bzw. diese traditionelle Moral nicht.
Auch in Empirische Soziologie ( 1931 ), das als Band 5 der Schriften zur wissenschaftlichen
Weltauffassung erschien , lehnt Neurath alles ab , was als „Verstehen“, „Sinngebung“, „Wert-
bezogenheit“ usw. auftritt. ( Vgl. dazu „Zur Kritik des Neukantianismus“, 7. 3. 4.3 unten. )
Alle wissenschaftlichen Aussagen bildeten „einen einheitlichen Bereich , der nur Aussa-
gen über beobachtbare Tatbestände umfaßt“. ( Neurath 1931 [ 1981a , 424 ]) Was die Soziolo-
gie mit Blick auf die traditionelle Ethik untersuchen könne , sei der Zusammenhang von
Lebenslage und Lebensstimmung :315
Lebenslage ist der Inbegriff all der Umstände , die verhältnismäßig unmittelbar die Verhal-
tensweise eines Menschen , seinen Schmerz , seine Freude bedingen. Wohnung , Nahrung ,
315 „Ja , unsere ganze soziologische Terminologie ist bewußt oder unbewußt darauf abgestellt , Lebensla-
genänderungen beschreiben zu können. Die Auswahl dessen , was man überhaupt heraushebt , deu-
tet auf Lebenslage hin. Auch der theologische Mensch interessiert sich für die Lebenslage , und sei
es für die Lebenslage im Himmel und in der Hölle.“ ( Neurath 1931 [ 1981a , 511 ])
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441