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7.3 Neuraths Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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Die Lebenslage ist und bleibt ein Behelf , um sich der Lebensstimmung , an deren Mess-
und Vergleichbarkeit Neurath noch mehr zweifelt als bei den Lebenslagen , über erfassba-
re Größen anzunähern. ( Vgl. Leßmann 2007a , 78 )
Letztlich gehe es allen Erfassungs- , Messungs- und Vergleichsschwierigkeiten zum
Trotz um Entscheidungen und ums Handeln. Hier ist Neurath betont zuversichtlich :
Wenn wir das von den Sozialwissenschaften beigestellte Material kennen , dann argumentie-
ren wir anders und handeln anders. ( Neurath 1944 [ 1981b , 977 ])
Von der herkömmlichen Ethik bleibt für Neurath wissenschaftlich nur zulässig , was in
die Soziologie wandern kann :
So geht die Soziologie als Lehre vom gesellschaftlichen Verhalten aus vielerlei Quellen her-
vor : aus der „Geschichte“, der „Nationalökonomie“, der „Ethnologie“, der „Theologie“, der
„Jurisprudenz“, der „Ethik“ und aus vielen anderen Disziplinen , die innerhalb der neuen
Soziologie als Teilformulierungen wieder auftauchen , soweit sie nicht überhaupt zum Ver-
schwinden gebracht werden. ( Neurath 1931 [ 1981a , 434 ])
Gute Vorarbeit hätten hierin Bentham und Mill geleistet. ( Neurath 1931 [ 1981a , 456 ])
Fragen nach Lebensglück und Lebensleid würden dadurch aus der Soziologie nicht
ausgeschaltet , da es sich um empiristisch formulierbare Tatbestände handle. ( Neurath 1931
[ 1981a , 503 ]) Werturteile wären jedoch nicht Teil der Argumentation. Sie werden gewis-
sermaßen ausgeklammert und die Soziologie von der Moral befreit , wie sich bestimmte
Ökonominnen und Ökonomen von der Theologie befreiten :
Bei Thomas Morus ist das gesellschaftliche Schema schon deutlich sichtbar , [ … ]. [ … ] Ge-
sellschaftsordnung ist damit aus dem Bereich der Theologie und Ethik in den Bereich der
Wissenschaft und Technik gerückt.
Es entwickelt sich eine Sonderdisziplin , welche festzustellen trachtet , wie Einrichtungen auf
das menschliche Glück einwirken. Bald nimmt solches Bemühen einen rein irdisch-epiku-
reischen Charakter an , wird zu einer Art Sozialepikureismus , bald hängt es noch mit einer
Nabelschnur an der Theologie. So erklärt etwa Iselin ( 1784 ), es sei „Wille des Schöpfers , daß
die größte mögliche Anzahl der Menschen auf der Erde , die größte mögliche Anzahl We-
sen in seiner ganzen Schöpfung , die größte mögliche Glückseligkeit in dem vollkommens-
ten Ebenmaße genieße“. Auf diese Weise kann man die Nationalökonomie durchaus utilita-
ristisch betreiben , alles in eine Klammer setzen und sagen : Alles dies ist gebilligt , weil Gott
selbst Utilitarist für alle ist. [ … ]
[ … ] Ist dieser Zustand erreicht , dann unterscheidet sich theologische von nichttheologischer
Wissenschaft nur noch wenig. ( Neurath 1931 [ 1981a , 443 ])
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441