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7.3 Neuraths Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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Es ist sicherlich sehr nützlich für die Studenten , wenn sie den Unterschied zwischen „Religi-
onswissenschaft“ und „Religion“ selbst kennenlernen. Wir kennen die ähnlich beschaffenen
Schwierigkeiten , die entstehen , wenn Leute keinen scharfen Trennstrich zwischen „Moral“
und der „Analyse der Moral“ ziehen , als einem Komplex von Formulierungen , der hauptsäch-
lich im Zusammenhang mit transzendenter Metaphysik präsentiert wird.
( Neurath 1938 [ 1981b , 859 ])
Als moralisch und politisch Handelndem ist eine solche Wissenschaft ( einschließlich einer
Analyse der Moral ) und ihre Terminologie für ihn wiederum nur Instrument , um einen als
moralisch gut befundenen zukünftigen gesellschaftlichen Zustand herbeizuführen. Wis-
senschaft , so Nemeth , ist für Neurath Technik , ein „gesellschaftliches Mittel zur Beherr-
schung der Wirklichkeit“. ( Nemeth 1990 , 76 ) Für die Neuordnung der wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Verhältnisse ist auch die Wissenschaft nur ein Mittel. Inhalt seiner Mo-
ral ist das Maximum an Glück für alle , für dessen Verwirklichung die Wissenschaft , ganz
im Sinne des wissenschaftlichen Humanismus , ein gutes Mittel darstelle. Wer Neuraths
moralische Auffassung teilt , für den ist Neurath ein moralischer Denker und Gestalter. Ob
Neurath selbst eine Rehabilitierung bestimmter Konzeptionen von Moral und Ethik –
nämlich nicht traditioneller , sondern metaphysikfreier , „moderner“
– vorgenommen hätte ,
so er nicht so früh und plötzlich gestorben wäre , muss hier und für immer offen bleiben.
Durch die Konzentration auf eine soziologische Gesetzeswissenschaft und die Be-
schränkung aller Philosophie auf ihre Rolle für die Wissenschaften verlor Neurath jeden-
falls aus den Augen , was eine antimetaphysische Philosophie für eine moderne Moral di-
rekt zu leisten vermöge.
7.3.4.3 Zur Ablehnung des Südwestdeutschen Neukantianismus
Abschließend zu Neuraths Moral- und Ethikverständnis soll hier sein Verhältnis zum
Südwestdeutschen Neukantianismus behandelt werden. Was Neurath von den südwest-
deutschen Neukantianerinnen und Neukantianern hielt , zeigt sich schon an Folgendem :
Neurath bezeichnet Windelband , Rickert und die südwestdeutschen Neukantianerinnen
und Neukantianer in seinem Briefwechsel manchmal kollektiv als „Windelbanditen“ ( Ue-
bel 2010 , 118 ).326
Neurath lehnte vor allem Rickerts Unterscheidung von Kultur- und Naturwissenschaf-
ten , die Neurath als strikte interpretierte , entschieden ab.327 Hier liegt jedoch eine falsche
Interpretation von Rickerts Vorschlag vor. Rickert schlug keine scharfe Trennung vor ,
sondern arbeitete zwei Methoden heraus , die in unterschiedlicher Betonung in Wissen-
326 Zu Neuraths Verhältnis zum Marburger Neukantianismus siehe jüngst Stuchlik 2011.
327 Neuraths Jugendmentor Tönnies hatte schon 1902 mit Rickert über dessen Darstellung der materi-
alistischen Geschichtsauffassung debattiert. Zur Debatte Rickert–Tönnies siehe auch Rickerts Kul-
turwissenschaft und Naturwissenschaft ( 112 f. ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441